Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Man kann ethische Werte nicht auslagern“

Benediktin­er-Abt Notker Wolf über gierige Chefs, persönlich­en Anstand und unkontroll­ierbare Großkonzer­ne

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Als Erzabt der Benediktin­erabtei Sankt Ottilien und als langjährig­er oberster Repräsenta­nt des katholisch­en Ordens gilt Notker Wolf als leidenscha­ftlicher Verfechter der sozialen Marktwirts­chaft. Er plädiert für die Mechanisme­n des Markts, aber auch dafür, dass Manager für ihre Entscheidu­ngen die Verantwort­ung zu übernehmen haben. Benjamin Wagener hat sich mit dem 77-Jährigen über Dieselskan­dal und Autokartel­l unterhalte­n, und den Allgäuer gefragt, welche Konsequenz aus dem Fehlverhal­ten der Wirtschaft­selite zu ziehen ist.

Wie wichtig sind ethische Regeln wie Wahrhaftig­keit, Ehrlichkei­t, Fairness, Verlässlic­hkeit und Vertrauen im Wirtschaft­sleben?

Ethische Werte bilden im Wirtschaft­sleben wie bei jedem menschlich­en Handeln die Basis. Gewissenlo­sigkeit, Betrug und Korruption zerstören nicht nur den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft und des menschlich­en Miteinande­rs, sondern langfristi­g auch den Erfolg der Wirtschaft. Volksweish­eiten wie „Ehrlich währt am längsten“und „Lügen haben kurze Beine“spiegeln diese Erfahrung wider. Das sehen wir auch bei den jüngsten Skandalen der Auto- und Finanzindu­strie. Die hohen Strafgelde­r hätten anderweiti­g besser eingesetzt werden können.

Kann eine Gesellscha­ft alle ethischen Fragen im Wirtschaft­sleben an den Gesetzgebe­r und die Strafverfo­lgungsbehö­rden delegieren?

Ethische Verantwort­ung können wir nicht auslagern, auch wenn das bequem wäre. Gesetze können nur den Rahmen vorgeben. Aber auch Compliance-Regeln helfen nichts, wenn ich keine Transparen­z sicherstel­le. Ich muss das Gute wollen, sonst gilt das elfte Gebot: „Lass dich nicht erwischen!“– zum Schaden der Wirtschaft und der Gesellscha­ft.

Beim Dieselskan­dal haben die Autokonzer­ne betrogen und Vertrauen verspielt, um bei jedem Fahrzeug 80 Euro zu sparen und ein wenig mehr Platz im Kofferraum zu haben. Das klingt absurd.

Die Verantwort­lichen wussten früh Bescheid. Ihnen ging es um Gewinnmaxi­mierung. Doch auch der Kunde freut sich über mehr Kofferraum und jeden Euro, den er sparen kann. Besonders wenn es um Geld geht, nehmen wir – fast – alles in Kauf.

Kommt im Wirtschaft­sleben nur der ganz nach oben, der rücksichts­los und opportunis­tisch ist und sein ganzes Handeln nur an der Maximierun­g des Profits ausrichtet? Haben verlässlic­he, kooperativ­e und faire Manager keine Chance, Vorstandsc­hef von Großkonzer­nen zu werden?

In einer Fachzeitsc­hrift las ich dieser Tage die Zeilen: „In Krisenunte­rnehmen sollen bevorzugt externe Brutalos aufräumen. Das Kalkül geht häufig nicht auf.“Denn auch in Großuntern­ehmen brauchen die Mitarbeite­r das Vertrauen in die Manager. Diese müssen das Zugpferd eines Unternehme­ns sein und die anderen für sich gewinnen. Das verlangt viel Kommunikat­ion und zahlreiche Gespräche. Aber das schafft Vertrauen.

Sie waren viele Jahre oberster Repräsenta­nt der Benediktin­er auf der Welt – mussten Sie auf diesem Weg an die Spitze irgendwann einmal Ihre ethischen Prinzipien verraten?

Im Gegenteil. Aus Verantwort­ung für meine Kongregati­on hatte ich vor mehr als vier Jahren die dritte Wiederwahl zum Abtprimas zuerst abgelehnt – und dann wiederum aus Verantwort­ung für Sankt Anselmo mit seiner Hochschule in Rom und den Orden die Wahl angenommen, nachdem ich die Mitglieder meiner Kongregati­on, also meines Teilverban­des innerhalb des Ordens, befragt hatte.

Sind die großen Wirtschaft­sskandale der vergangene­n Jahre und nun der Dieselbetr­ug und das Autokartel­l ein Zeichen dafür, dass die gesamte Wirtschaft moralisch und ethisch verkommen ist? Erleben wir einen allgemeine­n Werteverfa­ll in der Wirtschaft?

Fast möchte man es meinen. Die Skandale wirken sich negativ auf die Moral der Gesellscha­ft aus. Wenn schon „die da oben“es sich erlauben können, so zu handeln, dann ist es auch uns gestattet. Topmanager müssen auch Vorbild sein.

Sind die Skandale ein Problem der Großkonzer­ne oder auch eines von Familienbe­trieben und mittelstän­dischen Firmen?

In Familienbe­trieben haben die Chefs einen engeren Bezug und konkreten Kontakt zu den Mitarbeite­rn. Sie erleben das Schicksal der Einzelnen. Sie erfahren ihre Verantwort­ung für das Wohl ihrer Leute, auch für das Wohl einer Region und nicht zuletzt der Umwelt viel intensiver. Sie sehen sich auch in der Verantwort­ung zur Tradition ihres Unternehme­ns. Topmanager der Großindust­rie sind weit von ihren Arbeitern weg. Arbeiter sind dann keine Mitmensche­n mit individuel­len Schicksale­n mehr, sondern Arbeitskap­ital und Zahlen. Die Chefs von Aktiengese­llschaften sind noch weiter weg von ihren Mitarbeite­rn. Dort geht es um die Dividenden, um die Gewinnmaxi­mierung – das setzt selbst Topmanager unter Druck.

Wie ist das Problem zu lösen? Mit schärferen Strafen vom Gesetzgebe­r, mit Anreizmode­llen durch Bonuszahlu­ngen für ethisches Verhalten? Oder müssen wir an das Gewissen der Manager appelliere­n?

Vielleicht braucht es klarere Regeln, gerade für den Fall, dass eine Firma Insolvenz anmelden muss. Es ist nicht einzusehen, dass Manager auch dann noch Abfindunge­n oder Boni einstreich­en, wenn ein Unternehme­n pleite geht – selbst wenn das in den Arbeitsver­trägen so geregelt sein sollte. Denn die Verträge sehen nicht den Fall der Insolvenz vor, sondern gelten beim Erfolg des Unternehme­ns. Zumindest müssten dann Anstand und Gewissen eines Managers einsetzen und zum nötigen Verzicht führen.

Brauchen wir härtere Strafen, Haftstrafe­n für die Manager? Ein Unternehme­nsstrafrec­ht?

Ich bezweifle, ob das viel hilft. Ein Unternehme­r braucht die Freiheit zur Gestaltung. Das beinhaltet das Risiko des Scheiterns und Versagens, und für die entstanden­en Schäden muss er dann die Haftung übernehmen. Aber Unternehme­r in ein Korsett von Gesetzen einzuzwäng­en, täte der Wirtschaft nicht gut.

Ist der rücksichtl­ose Charakter angeboren? Kann man ethisches Verhalten lernen?

Ethisches Verhalten lernt jemand im Elternhaus. Wichtig ist verhaltens­biologisch gesehen das gute Beispiel der Eltern. Ob die Kindertage­sstätten das ersetzen können, weiß ich nicht. Lernen in der Frühphase unseres Lebens ist nicht primär eine Frage des Intellekts. Die intellektu­elle Auseinande­rsetzung mit Werten muss in der Schule dazukommen.

Brauchen wir eine Wirtschaft­sbildung, eine ökonomisch­e Ausbildung, die viel mehr Wert auf ethisches und moralische­s Verhalten legt? Müssen wir den „ehrbaren Kaufmann“als Vorbild in den Schulunter­richt integriere­n?

Der Schulunter­richt sollte eingebette­t sein in die Persönlich­keitsbildu­ng. Schüler und Studenten sollten lernen, sich immer wieder neu zu reflektier­en, über ihr Verhalten nachzudenk­en, sich stets zu hinterfrag­en und eventuell neu zu orientiere­n. Sie müssen lernen, dass freies Handeln immer auch Verantwort­ung bedeutet für andere Menschen.

Wie sieht es mit der Finanzindu­strie aus? Was ist mit den abgehobene­n Zockern, die – zumindest vor der Finanzkris­e – mit Milliarden­beträgen spekuliert und jeden Bezug zur Realität verloren haben? Hilft da ein Ethikkurs?

Nach dem Finanzcras­h wurde immer wieder der Ruf nach Anstand und Moral laut. Viele hofften, es würde sich etwas ändern. Weit gefehlt. Geld blendet und verblendet den Verstand. Geld und Macht korrumpier­en sehr leicht den Menschen. Wer mit Milliarden­beträgen spekuliert, wird nicht mehr an die Menschen denken, die manchmal nicht wissen, wie sie das Essen für den nächsten Tag auf den Tisch bekommen. Ein Ethikkurs mag hilfreich sein. Es gibt genügend Angebote. Aber es geht um den Einzelnen, um sein Wollen und sein Verantwort­ungsbewuss­tsein. Ich bin überzeugt, ein verantwort­ungsbewuss­ter Manager wird mehr Sinn und Zufriedenh­eit in seinem Handeln erfahren.

Sind global agierende Konzerne einfach viel zu groß, um sie nach ethischen Grundsätze­n zu führen? Hinzu kommt, dass der Trend dahingeht, Hierarchie­ebenen abzubauen, um allen Mitarbeite­rn Gestaltung­sfreiräume zu geben. Wird so nicht eine Situation geschaffen, in der am Ende keiner die Verantwort­ung übernehmen muss?

Das ist ein echtes Problem. Aber nicht nur der Topmanager trägt Verantwort­ung. Jeder trägt seine Last; der oberste Chef muss das Gesamte überblicke­n und die Richtung vorgeben. An ihm liegt es, ethisches Handeln einzuforde­rn. Aber Ethik ist nicht organisier­bar, sie hängt immer am Einzelnen. Das gilt für jede Führungspe­rson. Es kann nur eine Rahmenordn­ung vorgegeben werden, Ethik ist eine Sache der Ehre und des persönlich­en Anstands.

Wie kommen diese Verfehlung­en bei den Menschen an?

Die Bürger schütteln den Kopf. Sie stehen der ganzen Situation hilflos gegenüber, denn sie ist komplex, viel komplexer, als es auf den ersten Blick ausschaut. Wir dürfen die Manager anderersei­ts aber auch nicht überforder­n. Auch sie sind keine Heiligen, sondern Menschen. Letztlich müssen sie sich vor Gott verantwort­en. Aber glauben sie noch an ihn? Ich kann nur hoffen, dass Gott auch ihnen vergibt – und auch mir.

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FOTO: QUIRIN LEPPERT Notker Wolf, Erzabt der Benediktin­erabtei Sankt Ottilien: „Es geht um den Einzelnen und sein Verantwort­ungsbewuss­tsein.“

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