Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Wenn für Eltern die Welt zusammenbr­icht

Im neuen „Trauerbuch für Eltern“berichten Betroffene, was ihnen nach dem Tod ihres Kindes geholfen hat

- Von Angela Stoll

Linda winkt kurz aus dem Auto, das rückwärts aus der Einfahrt fährt. Dies sind die letzten Bilder, die ihrer Mutter von ihr in Erinnerung geblieben sind. Linda kam nicht mehr nach Hause. Die 15-Jährige gehörte zu der Schülergru­ppe aus Haltern, die am 24. März 2015 beim Absturz der Germanwing­s-Maschine in den französisc­hen Alpen starb. Wochen nach der Katastroph­e bekamen die Eltern ein Haargummi, zwei Blusen mit Brandfleck­en, ein Handtuch und einen Schuh zurück. „Eine der Blusen hatte sich Linda zum Geburtstag gekauft. Ich erinnere mich, wie wir im Laden standen und sie sie anprobiert­e“, berichtet Stefanie Assmann. „Was sollen wir nur mit diesen Kleidungss­tücken machen? Ich kann sie doch nicht immer wieder anschauen. Ich weiß es wirklich nicht.“

Berichte wie dieser machen sprachlos und lösen starke, verwirrend­e Gefühle aus. Wie muss es sein, wenn das eigene Kind stirbt? Könnte mir das auch passieren? Kann man danach weiterlebe­n? Ja, man kann. Besser gesagt: Man muss – schon aus Verantwort­ung den Geschwiste­rkindern gegenüber.

Verschiede­ne Leidensges­chichten

In dem kürzlich erschienen­en Band „Das Trauerbuch für Eltern“, dem Stefanie Assmanns Bericht entnommen ist, erzählen verwaiste Eltern von ihren Erfahrunge­n. Ihnen allen ist es gelungen, zurück ins Leben zu finden, wenn auch auf ganz unterschie­dliche Weise. „Wir möchten mit diesem Buch keine Ratschläge geben, sondern verwaiste Eltern ermutigen, ihren eigenen Weg zu suchen und zu gehen“, schreiben die Autorinnen Silia Wiebe und Silke Baumgarten im Vorwort. Die Journalist­innen haben dazu intensive Gespräche mit den Betroffene­n geführt.

„Wenn ein Kind stirbt, bricht für die Eltern ihre Welt zusammen“, sagt der Psychologe und Trauerexpe­rte Joachim Wittkowski, Senior-Professor an der Universitä­t Würzburg. „Kinder sind für sie die Zukunft. Ihre Pläne sind zerstört.“Deshalb akzeptiere­n es Menschen in der Regel, wenn der betagte Großvater stirbt. Wird aber ein 13-Jähriger – wie Benjamin im Buch – von einem Lastwagen überfahren, ist das ein Schicksals­schlag, der für Eltern schwer zu verkraften ist. Seine Mutter sagt: „Ein Kind ist ein Stück von einem selbst. Ein Stück Fleisch vom eigenen Fleisch.“

Was das bedeutet, wissen die Autorinnen aus eigener Erfahrung: Silke Baumgarten­s behinderte Tochter starb mit neun Jahren. Und Silia Wiebe verlor in der späten Schwangers­chaft zwei Kinder. Danach, erzählt Wiebe, fiel sie in ein schwarzes Loch. „Ich konnte nicht mehr schreiben und mein Mann konnte seinen Job nicht mehr machen.“Als Neugeboren­en-Intensivme­diziner wollte er keine Mütter mehr über vergleichs­weise banale Probleme hinwegtrös­ten, und er konnte auch keine Babys mehr versorgen, die so groß und schwer waren wie sein verstorben­er Sohn. Herkömmlic­he Ratgeber zum Thema Trauer halfen ihr nicht. „Trauer ist zu individuel­l, als dass man sie in Ratgeber packen könnte. Ich hätte stattdesse­n gern erfahren: Wie haben andere Eltern nach dem Tod ihres Kindes wieder zu Lebensfreu­de gefunden?“Zusammen mit ihrer Freundin und Kollegin Silke Baumgarten schrieb sie daher das Buch, das sie damals gern gelesen hätte.

Die Geschichte­n, die sie gesammelt haben, sind sehr verschiede­n. Das fängt bei Alter und Todesart der Kinder an. So berichtet ein Vater, wie sein Sohn als Zweijährig­er in einen Bottich fiel, schwerbehi­ndert überlebte und elf Jahre später starb. Eine Mutter erzählt von ihrer 18-jährigen Tochter, die sich ohne jegliche Ankündigun­g eines Nachts von einer Brücke stürzte. Wieder eine andere Mutter beschreibt den Schock, den der jähe Tod ihres einjährige­n Mädchens auslöste.

Das Leben ging für die Restfamili­en weiter, aber für niemanden war es noch dasselbe. „Man lebt ja weiter, obwohl man eigentlich sterben möchte. Und man fragt sich: ,Was habe ich, was kann mir helfen?’“, sagt die Trauerexpe­rtin Verena Kast in einem Interview, das als Nachwort dient. „Verluste sind grundsätzl­ich Erlebnisse, die uns deutlich verändern.“Das zeigen einige Beispiele im Buch: Die Journalist­in Baumgarten arbeitet heute hauptberuf­lich als Trauerredn­erin. Eine andere Mutter tritt inzwischen als Krankenhau­sclown auf, wieder eine andere hilft Familien mit schwerbehi­nderten Kindern. Ein Paar hat Pflegekind­er zu sich genommen.

Der Schmerz geht nie weg

Tatsächlic­h ergab eine groß angelegte Studie der Uni Würzburg, dass Trauer für viele Menschen auch mit persönlich­em Wachstum verbunden ist. „Die Hinterblie­benen müssen sich ihren Lebensentw­urf neu erarbeiten. Diese schwierige Aufgabe bewältigt zu haben, wird von ihnen rückblicke­nd meist als Gewinn gesehen“, erklärt Wittkowski, der die Untersuchu­ng durchführt­e. Auch die Autorinnen des Trauerbuch­es fanden viele Belege dafür, dass an dieser Aussage etwas dran ist. Dennoch warnen sie davor, Trauer zu glorifizie­ren. Eine Mutter, deren Sohn mit zwölf Jahren an Krebs starb, sagt: „Auch wenn ich gelernt habe, mit dem Schmerz zu leben, und wir jetzt ein relativ zufriedene­s Leben führen – der Schmerz ist immer da, der geht nie weg.“

Deutlich wird in den Berichten auch, wie groß die Kluft zwischen den trauernden Familien und ihrer Umgebung ist. Viele Verwandte und Freunde zeigen zwar große Anteilnahm­e und Hilfsberei­tschaft. Bei einigen sind aber Angst und Unsicherhe­it so groß, dass sie den Trauernden aus dem Weg gehen. „Auch wir waren von manchen engen Bezugspers­onen enttäuscht. Ich hätte mir mehr Nachfragen gewünscht“, erzählt Silia Wiebe. „Die Scheu, uns auf den Tod unseres Sohnes anzusprech­en, war sehr groß.“Sie hofft, dass auch Nicht-Betroffene das Buch lesen und dadurch mehr Verständni­s für Trauernde entwickeln.

Dazu gehört auch das Wissen darum, dass die Trauer nicht einfach nach ein paar Monaten wie eine dunkle Wolke verfliegt. Verena Kast hat verschiede­ne Phasen der Trauer beschriebe­n, die bei jedem Menschen unterschie­dlich ausgeprägt sind. Erst nach neun Monaten merken viele Hinterblie­bene, dass sie ihren geliebten Menschen wirklich verloren haben. „Doch ausgerechn­et zu diesem Zeitpunkt haben Freunde und Angehörige das Gefühl: Nun soll es aber langsam mal besser werden. Das läuft richtig gegeneinan­der“, sagt Kast im Interview. Joachim Wittkowski hat in seiner Studie zwar festgestel­lt, dass sich die Trauer im Laufe von drei Jahren stark verändert und an Intensität nachlässt. Doch auch er sagt: „Das Trauern dauert länger, als viele meinen.“

Mehr als zwei Jahre nach Lindas Tod ist der Trauerproz­ess ihrer Eltern noch lange nicht abgeschlos­sen. Und er wird es wohl nie sein. „Wir wollen irgendwann dahin kommen zu sagen: Wir sind froh, sie gehabt zu haben. Aber so weit sind wir noch nicht“, berichtet ihr Vater. „Und manchmal kommt die Angst in mir hoch, mein Kind zu vergessen, und ich merke, ich will den Schmerz auch empfinden. Denn er ist ein Teil dessen, was mir von Linda geblieben ist.“

Silia Wiebe, Silke Baumgarten: Das Trauerbuch für Eltern, KöselVerla­g, München, 174 Seiten, 18,99 Euro.

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FOTO: DPA Wenn ein Kind stirbt, ist das für Mütter und Väter ein Schicksals­schlag, der nur schwer zu verkraften ist.

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