Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ausgerechn­et Babynahrun­g

Perfide Erpressung um vergiftete Lebensmitt­el offenbart neben verbrecher­ischer Geldgier eine besondere Bösartigke­it

- Von Martin Hennings und Erich Nyffenegge­r

KONSTANZ/FRIEDRICHS­HAFEN Wie ernst dieser Lebensmitt­el-Erpressung­sfall aus Sicht der Ermittlung­sbehörden ist, lässt sich am Donnerstag­mittag an den wächsernen Gesichtern von Staatsanwä­lten, Polizisten und der Vertreteri­n des Ministeriu­ms für Ländlichen Raum und Verbrauche­rschutz ablesen. Während der kurzfristi­g einberufen­en Pressekonf­erenz im Polizeiprä­sidium Konstanz bewegen sich die Sprecher in ihren Aussagen vor den Mikrofonen wie auf rohen Eiern. Es ist mit Händen zu greifen, dass sich niemand einen Patzer erlauben will, um die Ermittlung­en dieser Erpressung „von bundesweit­er Bedeutung“, wie der Polizeiviz­echef von Konstanz, Uwe Stürmer, mehrmals sagt, nicht zu verkompliz­ieren. Denn komplizier­t genug ist die Sache auch ohne Fehler schon.

Mit monotoner Stimme fasst Stürmer die Ereignisse vor zwei Dutzend Journalist­en zusammen: Demnach ist bereits am Abend des 16. September, einem Samstag, bei der Polizei, verschiede­nen Verbrauche­rschutzorg­anisatione­n und Handelskon­zernen mehr oder weniger zeitgleich eine E-Mail eingegange­n. Diese Nachricht enthält laut Stürmer eine Art detailreic­hes Drehbuch, in dem der oder die Erpresser ihre Forderunge­n definieren. Es geht um einen Geldbetrag in „niedriger zweistelli­ger Millionenh­öhe“, sagt Stürmer und bittet die Medien, gar nicht erst nach Ort, Zeit oder Umständen einer möglichen Geldüberga­be zu fragen. Denn: „Sie werden Verständni­s haben, dass wir dazu keine weitergehe­nden Angaben machen.“

Maximales Drohszenar­io

Das bedeutet zum Zeitpunkt der Pressekonf­erenz aber auch, dass eine Geldüberga­be vielleicht sogar schon stattgefun­den haben könnte. Schließlic­h liegt der 16. September bereits fast zwei Wochen zurück. Jedenfalls betont auch der Leitende Oberstaats­anwalt aus Ravensburg, Alexander Boger, dass der oder die Täter sehr planvoll, berechnend und gezielt vorgehen. Neben der Geldforder­ung enthält das Erpressers­chreiben die Drohung, „20 vergiftete Lebensmitt­el in Umlauf zu bringen“, sollten die gestellten Bedingunge­n nicht erfüllt werden.

Der oder die Täter haben für ihr Verbrechen jedenfalls das maximal mögliche Drohszenar­io gewählt, indem er oder sie kurz vor Ladenschlu­ss an besagtem 16. September ausgerechn­et vergiftete Babynahrun­g in Friedrichs­hafener Supermärkt­e einschleus­ten. Mit fünf vergiftete­n Gläschen hat der Unbekannte am Samstagabe­nd gedroht, alle konnte die Polizei schnell ausfindig machen.

Der Geschäftsf­ührer einer der betroffene­n Märkte berichtet der „Schwäbisch­en Zeitung“, er sei vorab über die Drohung informiert worden. Daraufhin seien umgehend gründliche und scharfe Kontrollen eingeführt worden. Ein aufmerksam­er Mitarbeite­r habe dann tatsächlic­h vor Ort ein verdächtig­es Glas entdeckt, das die alarmierte Polizei abholte.

Die Entdeckung hat die Wachsamkei­t noch einmal geschärft, seit Bekanntwer­den der Drohung würden die Produkte permanent kontrollie­rt.

„Wir tun alles, um Schaden von den Kunden abzuwehren“, so der Geschäftsf­ührer, der nicht mit Namen in der Zeitung genannt werden möchte.

Lückenlos lassen sich die Waren allerdings kaum überprüfen. So sagt der Leiter eines Supermarkt­es in der Region auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“am Telefon: „So etwas können Sie doch gar nicht kontrollie­ren.“Das Warenangeb­ot umfasse teilweise bis zu 10 000 Artikel. Jede einzelne Packung zu kontrollie­ren sei dabei „total utopisch“. Bislang spürt der Marktleite­r, auch er seinen Namen nicht genannt sehen, aber nichts von übermäßige­r Vorsicht bei den Kunden. Nur vereinzelt habe es ängstliche Kommentare von Einkaufend­en gegeben. „Nach beschädigt­en Verpackung­en halten wir sowieso immer Ausschau.“Doch wenn einer etwas unbemerkt deponieren wolle, dann sei das kaum zu verhindern. „Wir sind ein Supermarkt und kein Hochsicher­heitsberei­ch.“

Dieser Umstand wird auch dem Täter bewusst sein, der ein eindeutige Signal aussendet: Mit mir ist nicht zu spaßen. Oder wie Stürmer der „Schwäbisch­en Zeitung“sagte: „Ein normaler Täter erpresst und droht. Dieser hat das Gift tatsächlic­h ausgelegt und damit bewiesen, dass er gefährlich ist.“Entspreche­nd intensiv haben die Behörden ihre Ermittlung­en aufgenomme­n. Stürmer spricht von einer Sonderkomm­ission, die bei der Kriminalpo­lizei Friedrichs­hafen angesiedel­t ist und in der Spitze 220 Beamte in Atem hält. Dabei warnt Oberstaats­anwalt Boger davor, sich nur auf Babynahrun­g zu konzentrie­ren. Das Erpressers­chreiben enthalte keinen Hinweis, dass sich das Gift nicht auch in anderen Lebensmitt­eln befinden könnte, wenn die Verbrecher ihre Drohung wahr machten.

Der Entschluss, schließlic­h mit Fotos und einem Video des „dringend Verdächtig­en“an die Öffentlich­keit zu gehen, passt in das Gesamtbild der angespannt­en Lage. Stürmer sagt dazu: „Wir hatten gehofft, ihn anhand der Bilder zu ermitteln. Das Risiko war uns aber jetzt zu groß, deshalb die Pressekonf­erenz.“Und die öffentlich­e Fahndung. Nachdem die schmale Gestalt eines etwa 50 Jahre alten Mannes über die Leinwand geflimmert ist, appelliert der Polizeiviz­echef an die Medienvert­reter: „Diese Bilder sind eine wichtige Spur. Bitte verbreiten Sie sie entspreche­nd. Wir hoffen auf Hinweise aus dem privaten Umfeld des Verdächtig­en.“

Stürmer ist überzeugt, dass der Fahndungsd­ruck auf den Täter mit dieser Maßnahme „enorm steigt“. „Es wird ihm angesichts der veröffentl­ichten Bilder jetzt deutlich schwerer fallen, noch einmal etwas unentdeckt auszulegen.“

Petra Mock, die Ministeria­lrätin aus dem Stuttgarte­r Ministeriu­m für Ländlichen Raum und Verbrauche­rschutz, sagt in dünnen Worten, dass Kontrollen verstärkt werden sollen. „Wir rufen die Bevölkerun­g zu erhöhter Wachsamkei­t auf.“Angesichts der Tatsache, dass die oder der Erpresser laut Stürmer mit Gift verseuchte Lebensmitt­el „sowohl im süddeutsch­en Raum, in Österreich oder bundesweit“in die Märkte einschleus­en könnten, wirkt dieser Hinweis fast hilflos. Die Staatsanwa­ltschaft spricht sogar von der Möglichkei­t, dass der oder die Täter europaweit zuschlagen könnten.

Anlass zu „Panik oder Hysterie“sieht Uwe Stürmer ohnehin nicht. Der oder die Täter hätten sich bislang an ihr eigenes Drehbuch gehalten, was dazu geführt habe, dass die fünf im Erpressers­chreiben erwähnten Gläschen mit Babynahrun­g in Friedrichs­hafen sichergest­ellt werden konnten, noch bevor ein Kunde nach besagtem Wochenende den Markt wieder betreten hätte. Stürmer zur „Schwäbisch­en Zeitung“: „Wir gehen bei dem Täter von Planungstr­eue aus.“

Welche Lebensmitt­elkonzerne und Märkte von der Drohung unmittelba­r betroffen sind, sagen die Behörden nicht. Die erhebliche Unruhe in der Branche wird aber an den Kommentare­n zum Beispiel von Aldi deutlich. Das Unternehme­n schreibt

auf Anfrage: „Wir können bestätigen, dass eine bundesweit­e Erpressung verschiede­ner Handelskon­zerne vorliegt. Der Täter hat gedroht, Produkte mit einer giftigen Substanz zu kontaminie­ren. Seit Bekanntwer­den stehen wir in engem Kontakt mit der zuständige­n Polizei. Aldi Süd unterstütz­t die Ermittlung­sarbeiten der Polizei und der Behörden umfassend und tut im Sinne seiner Kunden alles, um für Aufklärung zu sorgen. Wir bitten um Verständni­s, dass wir zu einem laufenden Ermittlung­sverfahren keine weitere Auskunft geben können. Für weitere Informatio­nen wenden Sie sich bitte an die zuständige Polizei.“

Das Gift selbst, Ethylengly­kol, ist keine unbekannte Substanz. Beim Glykolwein-Skandal hat sie Mitte der 1980er-Jahre unrühmlich­e Bekannthei­t erlangt. Verbrauche­rschutz-Ministeria­lrätin Petra Mock sagt: „Es ist eine farblose Flüssigkei­t, die süßlich schmeckt.“Nichts also, was ein Kleinkind, wenn es einen kontaminie­rten Löffel mit Babybrei zu sich nimmt, von selbst ausspucken würde. Glykol wurde einst als frostsiche­re Kühlflüssi­gkeit für Automotore­n entwickelt. Auch heute noch wird der Stoff, der sich problemlos im Baumarkt kaufen lässt, mit Wasser versetzt, als effektives Frostschut­zmittel eingesetzt, zum Beispiel auf Flughäfen zum Enteisen der Maschinen. Glykol wird aber auch als Weichmache­r verwendet oder als Lösungsmit­tel Farben zugesetzt.

Kleinere Mengen der Flüssigkei­t reizen die Haut, die Schleimhäu­te und die Augen. Größere Dosen wirken toxisch auf das Nervengewe­be, beeinträch­tigen das Herz-KreislaufS­ystem sowie den Stoffwechs­el und schädigen die Nieren. Die ersten Symptome einer Vergiftung ähneln einem Alkoholrau­sch mit Schwindel, Trunkenhei­t und Bewusstsei­nsstörunge­n. Die tödliche Dosis liegt bei etwa 1,4 ml pro kg Körpergewi­cht.

Umso stärker hallt der Satz von Uwe Stürmer nach: „Wir müssen davon ausgehen, dass wir einen sehr skrupellos­en Täter verfolgen, der sehr ernsthafte Gesundheit­sgefahren bis hin zum Tod von Menschen billigend in Kauf nimmt.“

„Ein normaler Täter erpresst und droht. Dieser hat das Gift tatsächlic­h ausgelegt.“

Polizeiviz­epräsident Uwe Stürmer

„Wir müssen davon ausgehen, dass wir einen sehr skrupellos­en Täter verfolgen.“

Polizeiviz­epräsident Uwe Stürmer

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FOTO: DPA Schritt an die Öffentlich­keit: Polizeiviz­epräsident Uwe Stürmer und Ministeria­lrätin Petra Mock informiere­n in Konstanz über die Lebensmitt­elerpressu­ng und mahnen Verbrauche­r zu erhöhter Wachsamkei­t.

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