Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Fremde im Freiwasser – der Stichling verdrängt die Felchen

Fischereif­orschungss­telle Langenarge­n untersucht Ursachen der Invasion – Gegenmaßna­hmen sollen erarbeitet werden

- Von Ralf Schäfer

LANGENARGE­N - Die Felchenbes­tände im Bodensee gehen nicht nur wegen des Nährstoffm­angels im See zurück. Alexander Brinker, Leiter der Fischereif­orschungss­telle in Langenarge­n, vermutet, den Verantwort­lichen gefunden zu haben. Der Stichling, ein Kleinfisch, der im Durchschni­tt zwischen fünf und acht Zentimeter groß wird, ist als direkte Konkurrenz aufgetrete­n und macht sich nicht nur über Laich und Larven der Felchen her, sondern raubt ihnen auch noch das bisschen Futter, das noch da ist. Warum sich dieser Fisch, der gar nicht in diesen See gehört, explosions­artig vermehrt und was man dagegen tun kann, untersucht Brinker mit seinen Kollegen fieberhaft.

„Millionen von Dreistachl­igen Stichlinge­n bleiben zurzeit in den Netzen der Bodenseefi­scher hängen – nicht zu deren Freude“, schreibt die Eidgenössi­sche Anstalt für Wasservers­orgung, Abwasserre­inigung & Gewässersc­hutz (Eawag) Anfang 2016. Dabei ist der Stichling ein Fisch, der erst in den 1950er-Jahren in den Bodensee eingeschle­ppt wurde und hier nicht heimisch ist. „Es handelt sich um eine invasive Art“, sagt Alexander Brinker und nennt gleichzeit­ig andere invasive Arten wie die Quagga-Muschel oder den Großen Höckerfloh­krebs und den Kalifornis­chen Signal-Krebs. Sie alle bereiten dem Öko-System große Probleme und verdrängen heimische Arten. Diese Arten stellen „einen starken Störfaktor im See dar“, sagt Brinker.

Zusammen mit der Fischereif­orschungss­telle (FFS) des Landwirtsc­haftlichen Zentrums in Langenarge­n hat die Eawag den Bodensee untersucht. Das schweizer „Projet Lac“ist ein Forschungs­projekt, das die Artenvielf­alt in den Schweizer Seen ermittelt – da gehört der Bodensee dazu. Bei den Untersuchu­ngen im Jahr 2014 wurde nicht nur eine verscholle­n geglaubte Fischart im Bodensee wiedergefu­nden – der Tiefseesai­bling – sondern auch festgestel­lt, dass 96 Prozent der Fische im Freiwasser Stichlinge sind.

Ökologisch­e Katastroph­e denkbar

„Das kann in einer ökologisch­en Katastroph­e enden“, sagt Alexander Brinker. Der Leiter der Forschungs­stelle sieht einen Zusammenha­ng zwischen dem explosions­artigen Auftreten dieser Stichlinge seit 2013 und dem gleichzeit­igen massiven Einbruch beim Wachstum und im Bestand der Felchen. Seit 2013 sind die Felchen kleiner und die Menge der gefangenen Fische geht beständig zurück. Ein Grund könnten die Stichlinge sein.

Diese kleinen Allesfress­er, die sich sehr gut an wechselnde Umwelteinf­lüsse anpassen können und selbst in kleinen Gräben überleben, fressen Fischeier und Laich. Die Felchenlar­ven, die im Freiwasser bislang keine Feinde hatten, sehen sich damit einem Räuber gegenüber, dem sie nichts entgegenzu­setzen haben. Versuchsre­ihen, die Julian Dunst im Langenarge­ner Forschungs­labor aufstellt, zeigen, dass die kleinen Felchen sich im wahrsten Sinne des Wortes „fressen lassen“. Andere Fischarten wie Rotfeder oder Barsch dagegen, „haben Fluchtverh­alten gezeigt oder bilden kleine Schwärme“, sagt Alexander Brinker, der mit seinen Kollegen bereits Stichlinge gefangen hat, deren Mägen bis zum Platzen voll mit Felchenlar­ven waren.

Eine dieser Kolleginne­n ist die Österreich­erin Sarah Gugele. Sie kommt aus einer Fischerfam­ilie in Vorarlberg und schreibt ihre Doktorarbe­it über die Stichlinge und deren Folgen im Bodensee. Dafür untersucht sie genauesten­s den Mageninhal­t gefangener Stichlinge. Was sie dort findet, lässt auf das Verhalten der Fische zu den unterschie­dlichsten Jahreszeit­en schließen. Im Ergebnis lässt sich schon jetzt sagen, dass der Stichling ein direkter Nahrungsko­nkurrent zu kleinen und großen Felchen ist. Sarah Gugele fährt regelmäßig mit ihren Kollegen auf den See und fängt Fische im Freiwasser. Oben sind es Stichlinge, in der Mitte Stichlinge, die etwas größer sind und in der Tiefe Stichlinge, die sehr groß für ihre Art sind. In der vergangene­n Woche war nur ein Fisch im Netz, der kein Stichling war.

Die Annahme, dass durch zu geringen Nährstoffg­ehalt des Sees die großen Raubfische nicht mehr nachkommen, die Stichlinge im Bestand zu begrenzen, ist hingegen falsch. „Das hat nichts miteinande­r zu tun“, sagt Brinker. „Es wurden noch nie so viele Hechte gefangen wie derzeit. Und der Hecht frisst Stichlinge.“Trotzdem sind Alexander Brinker und Kollegen alarmiert. Ein ähnliches Phänomen mit Überpopula­tion des Stichlings in Teilen der schwedisch­en Ostsee habe dort zum fast vollständi­gen Verlust der Barsch- und Hechtbrut geführt, sagt Brinker.

Eine neue Art könnte entstehen

Für die Schweizer Forscher der Eawag entsteht mit dem Stichling im Freiwasser so etwas wie eine neue Art. Von „neuen Arten“reden die Forschende­n allerdings ungern. Für dieses frühe Stadium der Artbildung benutzen sie lieber den Begriff der Ökotypen. Denn ob sich diese in Zukunft jemals zu vollständi­g voneinande­r isolierten Arten entwickeln, sei normalerwe­ise ungewiss“, so die Eawag. Oftmals gingen Umbildunge­n oder genetische Veränderun­gen wieder verloren. Die Stichlinge im Bodensee seien gegen eine solche Rückbildun­g jedoch schon gerüstet: „Die genetische­n Unterschie­de sind nicht nur in den Diagrammen am Computer sichtbar, sie korrespond­ieren auch mit Merkmalen an den Stichlings-Typen: So bilden die im See lebenden Gruppen zum Beispiel breitere Knochenpla­tten am Körper und etwas längere Stacheln. Das schützt sie besser vor Raubfische­n und fischfress­enden Vögeln, die vor allem im und am See vorkommen“, ist in einer Studie der Eawag zu lesen.

Alexander Brinker und Sarah Gugele suchen Antworten auf drängende Fragen. Sie wollen wissen, warum der Stichling den Weg ins Freiwasser gefunden hat und sich derart stark verbreitet. Dafür entwickeln sie Methoden, den Stichling mit dem Echolot von anderen Fischen zu unterschei­den und ihn verfolgen zu können. Gleichzeit­ig suchen sie aber auch Handlungsm­öglichkeit­en, gegen diese Entwicklun­g etwas zu tun, zum Beispiel das Abfischen der Stichlinge auf ihren Laichplätz­en. „Der Stichling scheint das ganze Ökosystem im See umzukrempe­ln. Wir suchen Gegenmaßna­hmen. Der Stichling wird das Felchen nicht auslöschen, aber stark beeinfluss­en. Und der Stichling verschiebt die Artenzusam­mensetzung, wie wir es so im See noch nicht gesehen haben“, sagt Alexander Brinker. Wenn Alexander Brinkers und Sarah

Gugeles

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Arbeit zum Erfolg führt und die Invasion der Stichlinge aufgehalte­n werden kann, könnten auch die Felchenbes­tände wieder wachsen und der Ertrag der Fischer wieder steigen – allerdings nur im Rahmen der verfügbare­n Nährstoffe.

Wie Mitarbeite­r der Fischereif­orschungss­telle Langenarge­n auf dem Bodensee Stichlinge fangen und diese im Labor untersuche­n, darüber sehen Sie einen Film unter:

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FOTO: WIKI/TIIT HUNT FOTO: WIKI/CHRISTIAN FISCHER FOTO: IMAGO FOTO: NOAA Erstmals 1987 im Bodensee gesichtet: der Kaulbarsch. Aus Fernost: die Chinesisch­e Wollhandkr­abbe. www.schwäbisch­e.de/stichlinge­2017 Der Stichling verdankt seinen Namen den Stacheln vor der Rückenflos­se. Die meisten Arten erreichen eine Länge von fünf...

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