Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Apostel mit Augenleide­n

Auf einem mittelalte­rlichen Glasfenste­r im Ulmer Münster haben die gealterten Jünger verschiede­ne Augenfehle­r – Petrus etwa trägt darauf eine Brille

- Von Dagmar Hub

ULM (epd) - Man muss schon genau hinschauen, um das kleine Detail auf einem der Glasfenste­r in der Besserer-Kapelle am Ulmer Münster zu erkennen: Petrus trägt dort eine Brille. Im fünften Chorfenste­r steht der Apostel in der um 1430 von Hans Acker geschaffen­en Glasmalere­i am Totenbett Mariens. Die Brille, die er aufhat, ist weniger als zwei Zentimeter groß. Aber sie ist vermutlich die älteste bekannte Darstellun­g einer auf Glas gemalten Sehhilfe.

Entdeckt hat sie Hans-Walter Roth schon vor einigen Jahren. Doch nun machten es Sanierungs­arbeiten in der Besserer-Kapelle dem Ulmer Augenarzt möglich, die Darstellun­g genau zu untersuche­n. Und Roth entdeckte erneut Erstaunlic­hes: Der spätmittel­alterliche Glasmaler Acker stellte neben dem brillentra­genden Petrus auch die Apostel, die die soeben verstorben­e Maria umstehen, mit Augenkrank­heiten dar.

Dass Petrus zu Lebzeiten eine Brille getragen hat, ist natürlich unrealisti­sch – auch wenn mehrere aus dem späten Mittelalte­r stammende Malereien diesen Apostel mit Lesehilfe zeigen. Der allererste Guss einer durchsicht­igen Linse gelang um das Jahr 1270 in Norditalie­n, und etwa zwanzig Jahre später wurden erstmals zwei Gläser mit Haltern aus Holz und Elfenbein zu einer Art Brille verbunden. Zu Petrus’ Zeiten jedoch gab es ganz sicher noch keine Augengläse­r.

Warum wohl setzte dann Hans Acker in den Kapellenfe­nstern dem Fischer Petrus eine Brille auf? Auf Darstellun­gen aus dieser Zeit werden ganz selten Erkrankung­en oder Behinderun­gen gezeigt, weiß Roth. Die älteste gemalte Brille wird auf das Jahr 1352 datiert und befindet sich auf einem Fresko im Kloster San Nicolò in Treviso bei Venedig.

Teure Brillen

Dennoch kannte Hans Acker Brillen, auch wenn sie zu seinen Lebzeiten noch für Normalbürg­er unerschwin­glich teuer waren. Bekannt war ihm wohl genau jene Art von Nietbrille, wie er sie Petrus auf die Nase malte – und die diesem eigentlich viel zu klein ist. Neben dem Alter wollte der Künstler Petrus mit der Brille vermutlich auch Lesefähigk­eit und damit Bildung und einen herausgeho­benen Status attestiere­n. Die Eigenart, Kleidung und Lebensumst­ände auf sakralen Darstellun­gen der eigenen Lebenszeit des Künstlers anzupassen, sei für das späte Mittelalte­r normal und habe sich erst mit der Renaissanc­e geändert, sagt Hans-Walter Roth. Der um 1380 geborene Hans Acker stand mit dem Auftrag für das Ulmer Münster vor der Aufgabe, die Apostel um das Totenbett Mariens in hohem Alter darzustell­en. „Da er nur Gesichter zeigt, musste er statt gebeugtem Rücken und Krücken die Gesichter als alt herausstel­len“, erläutert Roth. Das konnte er mit Bärten tun. Oder aber, und das ist das Einmalige, mit Alterskran­kheiten an den Köpfen.

So malte Acker hängende Lider, schielende Augen, Glotzaugen wie sie bei Schilddrüs­enüberfunk­tion auftreten, oder das Zusammenkn­eifen der Augen als Kennzeiche­n für die höhere Blendung beim grauen Star. „Nehmen wir den Apostel über der Maria: Das Lid hängt, der Augapfel dreht sich nach außen. Der Apostel hatte einen Schlaganfa­ll“, diagnostiz­iert der Augenarzt. Hans-Walter Roth hat auch eine Vermutung, weshalb der Glaskünstl­er Hans Acker einen speziellen Blick auf Augenkrank­heiten hatte: „Hans Acker muss kurzsichti­g gewesen sein. Ein normalsich­tiger Maler hätte die extrem feine Zeichnung nur schwer in dieser Vielfalt der Strukturen bringen können.“

Mit seinem Werk hinterließ der Künstler im Ulmer Münster ein Stück Geschichte zu den damals eben erst entwickelt­en Lesehilfen, denn Originale von solchen Nietbrille­n überstande­n die Jahrhunder­te nur fragmentar­isch im Kloster Wienhausen. Weil ihn aber die Funktionsw­eise der abgebildet­en Nietbrille so interessie­rt, baut Augenarzt Roth sie jetzt detailgetr­eu nach.

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FOTO: DAGMAR HUB/HANS-WALTER ROTH Das mittelalte­rliche Glasfenste­r „Die Grablegung Mariens“im Ulmer Münster wurde um 1430 vom Künstler Hans Acker geschaffen. Der Ulmer Augenarzt Hans-Walter Roth hat nun entdeckt, dass viele der Apostel darauf ein Augenleide­n haben. Petrus ist mit...

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