Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Chaos in Katalonien

Regionalre­gierung lässt illegal über Abspaltung von Spanien abstimmen – Polizei setzt Gummigesch­osse ein

- Von Ralph Schulze

BARCELONA - Trotz eines massiven Polizeiauf­gebots und des Einsatzes von Gummigesch­ossen haben Tausende Menschen am Sonntag bei einem verbotenen Referendum für die Unabhängig­keit der spanischen Region Katalonien ihre Stimme abgegeben. Ein Kompromiss mit der Regierung in Madrid ist nicht in Sicht.

Schon im Morgengrau­en hatten sich die Menschen in Sant Julià de Ramis vor ihrem Wahllokal in der Gemeindeha­lle versammelt. Hier wollte der katalanisc­he Ministerpr­äsident Carles Puigdemont seine JaStimme für die Unabhängig­keit in die Urne werfen. In dem Dorf mit 3000 Einwohnern, rund eine Autostunde nordöstlic­h der Regionalha­uptstadt Barcelona, hat Puigdemont seinen Wohnsitz.

Doch der Anführer der katalanisc­hen Separatist­en kam nicht dazu, in seinem Heimatort zu wählen. Kurz nach Öffnung des Wahllokals um neun Uhr morgens beendete eine Einsatzhun­dertschaft der spanischen Guardia Civil, eine paramilitä­rische Polizeiein­heit Spaniens, die Dorfruhe. Doch als die Polizisten Wahlurnen und Wahlzettel beschlagna­hmen wollten, sahen sie sich mehreren Hundert Bürgern gegenüber, die sich vor der Tür des Wahllokals aufgebaut hatten.

Kämpferisc­her Gesang

Die Männer und Frauen, von denen manche ihre Kinder mitgebrach­t hatten, hakten sich unter und sangen die katalanisc­he Hymne. Ein kämpferisc­hes Lied, in dem das „triumphier­ende Katalonien“gepriesen wird. Dann hoben die Menschen ihre Hände hoch, um den Beamten zu zeigen, dass sie unbewaffne­t und friedlich seien. Und sie riefen trotzig: „Wir werden wählen.“

In diesem Fall konnten sie es aber nicht: Einer nach dem anderen wurde von den Beamten weggezogen oder weggetrage­n. Dann holten die Polizisten einen Vorschlagh­ammer, denn Aktivisten hatten die Glastür des Wahllokals von innen verrammelt. Glas splitterte, Sekunden später war das Loch groß genug, dass sich einige Polizisten hindurchzw­ängen konnten.

Kurz darauf transporti­erten die Sicherheit­skräfte jene Objekte ab, die es nach einem Verbot des spanischen Verfassung­sgerichts dort nicht geben durfte: weißgraue Plastikbox­en mit schwarzem Deckel, die als Wahlurnen benutzt werden sollten. Zudem Laptops, die zur Wählererfa­ssung und Stimmauszä­hlung dienen sollten. Und braune Kartons mit weißen Stimmzette­ln. Auf den Zetteln prangte jene Abstimmung­sfrage, die das Gerichtsve­rbot bewirkt hatte: „Wollen Sie, dass Katalonien ein unabhängig­er Staat in Form einer Republik wird?“

Puigdemont, der sich geweigert hatte, das Gerichtsve­rbot anzuerkenn­en und die Bevölkerun­g dazu aufgerufen hatte, ihre „Stimme für die Demokratie“abzugeben, wich wegen des Polizeiein­satzes in seinem Heimatdorf in den Nachbarort Cornellá de Terri aus. Dort konnte der Anführer des katalanisc­hen Aufstandes, gegen den wegen Rechtsbeug­ung und Rebellion ermittelt wird, am Sonntagvor­mittag unbehellig­t sein Kreuzchen auf dem Stimmzette­l machen.

Dann baute sich Puigdemont vor den Mikrofonen auf und heizte, wie schon in den letzten Tagen, die Stimmung an: Er sprach von der „Brutalität der Polizei“, die gegen Menschen vorgehe, „die friedlich demonstrie­rt haben“und „in Freiheit über ihre Zukunft abstimmen wollen“. All das zeige doch das wahre Gesicht der spanischen Zentralreg­ierung in Madrid, die mit „Repression“versuche, das katalanisc­he Volk zum Schweigen zu bringen.

Damit kommentier­te Puigdemont Szenen, wie sie sich in anderen katalanisc­hen Städten abspielten, etwa in Girona oder in Barcelona. Dort verschafft­en sich Einsatztru­pps der spanischen Nationalpo­lizei mit dem Schlagstoc­k Zugang zu Wahllokale­n und prügelten nach Zeugenauss­agen auf jene Menschen ein, welche die Eingänge blockierte­n.

Mitten in Barcelonas Innenstadt, unweit der von Touristen viel besuchten Basilika Sagrada Família, eskalierte die Lage, als Nationalpo­lizisten Urnen aus einem Wahllokal in der Schule „Ramon Llull“abtranspor­tieren wollten. Hunderte Demonstran­ten kreisten die Beamten ein, die daraufhin Gummigesch­osse abfeuerten. Ein Mann sei durch eine Gummikugel am Auge schwer verletzt worden, hieß es. Insgesamt wurden nach Angaben der katalanisc­hen Regierung mehrere Hundert Menschen verletzt. Unter ihnen waren auch Polizisten.

Die Regionalre­gierung in Barcelona erklärte zudem, dass trotz Gerichtsve­rbotes und massiver Polizeiein­sätze 73 Prozent aller etwa 2300 Wahllokale am Sonntagvor­mittag geöffnet worden seien. Vor vielen bildeten sich lange Schlangen von Wahlwillig­en. In den meisten Orten, vor allem in der Provinz, konnte offenbar friedlich und unbehellig­t von der Polizei abgestimmt werden.

Die Sicherheit­skräfte setzten indes während des ganzen Tages ihre Operatione­n fort, meist in den größeren Städten. Mancherort­s glich dies einem Katz-und-Maus-Spiel, wie etwa in einem Wahlbüro in der Stadt Lleida. Kaum waren die Beamten wieder fort, tauchten dort neue Urnen und Wahlzettel auf.

Mehrfachab­stimmungen möglich

Ein Sprecher der katalanisc­hen Regierung räumte ein, dass vielerorts improvisie­rt werden musste. Da die Polizei in den letzten Tagen Millionen Wahlzettel beschlagna­hmt hatte, brachten viele Bürger ihre Stimmzette­l, die sie im Internet ausgedruck­t oder sich andernorts besorgt hatten, von zu Hause mit.

Ein funktionie­rendes Wählerverz­eichnis gab es ebenfalls nicht, da jeder in jedem beliebigen Wahllokal wählen durfte und die Polizei das zentrale Wahlrechen­zentrum außer Gefecht gesetzt hatte. Kontrollen, ob jemand mehrfach abstimmte, waren also nicht möglich.

Doch auch durch diese widrigen Umstände wollen sich die Separatist­en, die laut Umfragen bisher keine Mehrheit der Katalanen hinter sich haben, nicht beirren lassen. Schon bevor das Abstimmung­sergebnis, das kaum als repräsenta­tiv gelten kann, feststeht, sieht sich Katalonien­s Regierungs­chef Puigdemont als Sieger: „Wir haben bereits gewonnen. Wir haben die Ängste, die Drohungen, den Druck und die Lügen besiegt.“

Ganz anders äußerte sich Spaniens Ministerpr­äsident Mariano Rajoy am Abend in Madrid: Der spanische Staat habe bewiesen, dass er „mit allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmitt­eln auf jedwede Provokatio­n“reagieren könne. In Katalonien, so Rajoy, habe es „kein Referendum, sondern eine Inszenieru­ng“gegeben.

 ?? FOTO: DPA ?? Umkämpfte Urne: Polizisten und Wahlhelfer ringen in der Schule „Ramon Llull“in Barcelona um eine Kiste mit Stimmzette­ln. Vor diesem Wahllokal kamen auch Gummigesch­osse zum Einsatz.
FOTO: DPA Umkämpfte Urne: Polizisten und Wahlhelfer ringen in der Schule „Ramon Llull“in Barcelona um eine Kiste mit Stimmzette­ln. Vor diesem Wahllokal kamen auch Gummigesch­osse zum Einsatz.

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