Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Der unverstandene Osten
Dass diese● Bundestagswahl nicht leicht werden würde für die CDU, zeigte sich spätestens vor drei Wochen in Torgau: Die sächsische Kleinstadt an der Elbe – 20 000 Einwohner, ein verlassenes Renaissance-Schloss, hübsch sanierte Bürgerhäuser – empfing Angela Merkel ungastlich – mit Regen und Kritik. Noch bevor der Tross der Kanzlerin auf den Marktplatz bog, hatten die Reisebusse der AfD Stellung bezogen.
Schließlich musste Merkel im strömenden Regen gegen ein Konzert aus Hunderten von Pfeifen anargumentieren. Mit der AfD pfiffen stiernackige Gestalten in ThorSteinar-Joppen und eine Delegation der Identitären Bewegung, die aus Sachsen-Anhalt angereist war. Sie übertönten leicht den fünfmal so großen Rest der versammelten Menschen, darunter brave Schüler, gut gelaunte Rentner und Flüchtlingsfrauen mit Kopftüchern, die Handyfotos schossen.
Ähnlich war es in allen ostdeutschen Städten, die Merkel im Wahlkampf bereiste. Das Ergebnis der Wut kam am Wahlsonntag, als der blaue Balken der AfD in fast allen Ostländern über 20 Prozent stieg. In Sachsen, dem Musterländle des Aufbaus Ost, holte die Partei gar 27 Prozent – und überholte damit die regierende CDU. Was ist da schiefgelaufen?
Die Wut deckt nicht die Fläche, aber sie ist da. In Pfiffen und Gebrüll äußert sich einerseits eine Antihaltung einiger weniger, die meist keiner Nachfrage standhält. Eine Haltung, die mit einem Grundgefühl korrespondiert, das tief in der Bevölkerung festsitzt. 27 Jahre nach der friedlichen Revolution sind die Ostdeutschen stolz auf das Erreichte. Auf der anderen Seite finden sich viele in ihrer Lebensleistung nicht gewürdigt. Da ist dieses Gefühl des Über-den-Tisch-gezogen-wordenSeins in den ersten Aufbaujahren, das Spuren hinterlassen hat.
Wer heute im Osten um die 60 ist, hat Brüche hinter sich, die in westdeutschen Eigenheimsiedlungen so nicht vorstellbar sind. Dazu gehört für viele die Erfahrung, dass einem mit Anfang 30, mit zwei Kindern und einem Haus, plötzlich die Fabrik vor der Nase dichtgemacht wird, bei der man sein Arbeitsleben hatte verbringen wollen.
Umzug in den Westen
Seitdem mussten Ostdeutsche grundsätzlich mobiler und flexibler sein. Die Menschen machten Umschulungen, versuchten sich als Selbstständige, verkauften Versicherungen – die wenigsten mit Erfolg. Sie pendelten nach Bayern, BadenWürttemberg oder in die Schweiz – oder sie zogen gleich ganz hin.
Viele der dramatischen Werksschließungen in der alten Heimat vollzogen sich auch deshalb, weil sich der Westen Konkurrenz ersparen wollte. Was übrig blieb, wurde zur verlängerten Werkbank. Die neuen Länder haben heute zwar Produktionsstätten, aber auch nach 27 Jahren keine Zentralen. Die sind oft in den Westländern, wo die Unternehmen Steuern zahlen und mit Forschung und Politik verzahnt sind.
Das hat Folgen. Selbst in den Wirtschaftszentren rund um Leipzig, Erfurt, Jena, Dresden ist das Steueraufkommen niedriger als in den armen Ecken von Nordrhein-Westfalen. Sachsen, eines der schlagenden Herzen des Wirtschaftswunders vor 150 Jahren, war nach der Wende glücklich, dass große Player wie Porsche und BMW ins Land kamen – und bezuschusste Ansiedlungen gern mit öffentlichem Geld. Indes, nur verlängerte Werkbank zu sein, hat seine Tücken. Die zeigen sich, wenn es nicht gut läuft. Als VW in der Dieselkrise ins Schlingern kam, war schnell klar, dass es in Wolfsburg keine harten Einschnitte geben wird – die gab es stattdessen in den Niederlassungen Dresden und Zwickau. Ein Missstand, den ostdeutsche Länderchefs schon lange beklagen, meist ohne Gehör.
Das Gefühl, nicht gehört zu werden, ist in den neuen Ländern weitverbreitet. Es gibt kein ostdeutsches Leitmedium, das Ost-Themen auf der Bundesbühne Gewicht verleiht. Für viele Westdeutsche ist der Osten immer irgendwo da drüben, wo es wild und rau zugeht. Dass die dynamischste Stadt der Republik inzwischen Leipzig heißt, hat sich am Rhein noch nicht rumgesprochen. Dagegen erfuhren die Pöbeleien einiger Hundert Pegida-Demonstranten bundesweit größte Aufmerksamkeit, sodass am Ende Tausende von sonst woher kamen, um diese Bühne zu nutzen.
Debatte über ungerechte Wende
Bei Pegida entlud sich auf teilweise asoziale Weise eine Kraft, die diese Bundestagswahl mitentschieden haben dürfte. Es ist wider Erwarten nicht die Integration der Flüchtlinge, es ist nicht die Angst vor dem Terror, auch nicht die Sicherheit in unterschiedlichen Facetten. Plötzlich redet das Land über die Ungerechtigkeiten der Nachwendezeit und ihre vielen Folgen. Denn auch die haben den Wahlerfolg der AfD ermöglicht.
Dabei war es lange die Linke, vormals die PDS, die dem Missvergnügen vieler Ostdeutscher an der neuen Welt eine Heimstatt bot. Für alle Parteien war im Bundestagswahlkampf klar, dass sie hier etwas anbieten mussten. Die SPD präsentierte ein spezielles Ost-Programm, das die Segnungen des Mindestlohns und der Rentenangleichung für die neuen Länder pries. Andererseits räumt man ein, dass sich viele Ostdeutsche bis heute abgehängt fühlen. Die CDU setzte auf den Faktor Merkel und ließ die Bundeskanzlerin in 19 ostdeutschen Städten auftreten.
Heraus kamen allerdings unschöne Bilder von pfeifenden Trupps. Indes, auch das hat den Blick auf die Spezifik Ostdeutschlands gelenkt und eine Debatte in Gang gesetzt, die nach 27 Jahren bitter nötig ist.