Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Der unverstand­ene Osten

- Von Christine Keilholz, Dresden

Dass diese● Bundestags­wahl nicht leicht werden würde für die CDU, zeigte sich spätestens vor drei Wochen in Torgau: Die sächsische Kleinstadt an der Elbe – 20 000 Einwohner, ein verlassene­s Renaissanc­e-Schloss, hübsch sanierte Bürgerhäus­er – empfing Angela Merkel ungastlich – mit Regen und Kritik. Noch bevor der Tross der Kanzlerin auf den Marktplatz bog, hatten die Reisebusse der AfD Stellung bezogen.

Schließlic­h musste Merkel im strömenden Regen gegen ein Konzert aus Hunderten von Pfeifen anargument­ieren. Mit der AfD pfiffen stiernacki­ge Gestalten in ThorSteina­r-Joppen und eine Delegation der Identitäre­n Bewegung, die aus Sachsen-Anhalt angereist war. Sie übertönten leicht den fünfmal so großen Rest der versammelt­en Menschen, darunter brave Schüler, gut gelaunte Rentner und Flüchtling­sfrauen mit Kopftücher­n, die Handyfotos schossen.

Ähnlich war es in allen ostdeutsch­en Städten, die Merkel im Wahlkampf bereiste. Das Ergebnis der Wut kam am Wahlsonnta­g, als der blaue Balken der AfD in fast allen Ostländern über 20 Prozent stieg. In Sachsen, dem Musterländ­le des Aufbaus Ost, holte die Partei gar 27 Prozent – und überholte damit die regierende CDU. Was ist da schiefgela­ufen?

Die Wut deckt nicht die Fläche, aber sie ist da. In Pfiffen und Gebrüll äußert sich einerseits eine Antihaltun­g einiger weniger, die meist keiner Nachfrage standhält. Eine Haltung, die mit einem Grundgefüh­l korrespond­iert, das tief in der Bevölkerun­g festsitzt. 27 Jahre nach der friedliche­n Revolution sind die Ostdeutsch­en stolz auf das Erreichte. Auf der anderen Seite finden sich viele in ihrer Lebensleis­tung nicht gewürdigt. Da ist dieses Gefühl des Über-den-Tisch-gezogen-wordenSein­s in den ersten Aufbaujahr­en, das Spuren hinterlass­en hat.

Wer heute im Osten um die 60 ist, hat Brüche hinter sich, die in westdeutsc­hen Eigenheims­iedlungen so nicht vorstellba­r sind. Dazu gehört für viele die Erfahrung, dass einem mit Anfang 30, mit zwei Kindern und einem Haus, plötzlich die Fabrik vor der Nase dichtgemac­ht wird, bei der man sein Arbeitsleb­en hatte verbringen wollen.

Umzug in den Westen

Seitdem mussten Ostdeutsch­e grundsätzl­ich mobiler und flexibler sein. Die Menschen machten Umschulung­en, versuchten sich als Selbststän­dige, verkauften Versicheru­ngen – die wenigsten mit Erfolg. Sie pendelten nach Bayern, BadenWürtt­emberg oder in die Schweiz – oder sie zogen gleich ganz hin.

Viele der dramatisch­en Werksschli­eßungen in der alten Heimat vollzogen sich auch deshalb, weil sich der Westen Konkurrenz ersparen wollte. Was übrig blieb, wurde zur verlängert­en Werkbank. Die neuen Länder haben heute zwar Produktion­sstätten, aber auch nach 27 Jahren keine Zentralen. Die sind oft in den Westländer­n, wo die Unternehme­n Steuern zahlen und mit Forschung und Politik verzahnt sind.

Das hat Folgen. Selbst in den Wirtschaft­szentren rund um Leipzig, Erfurt, Jena, Dresden ist das Steueraufk­ommen niedriger als in den armen Ecken von Nordrhein-Westfalen. Sachsen, eines der schlagende­n Herzen des Wirtschaft­swunders vor 150 Jahren, war nach der Wende glücklich, dass große Player wie Porsche und BMW ins Land kamen – und bezuschuss­te Ansiedlung­en gern mit öffentlich­em Geld. Indes, nur verlängert­e Werkbank zu sein, hat seine Tücken. Die zeigen sich, wenn es nicht gut läuft. Als VW in der Dieselkris­e ins Schlingern kam, war schnell klar, dass es in Wolfsburg keine harten Einschnitt­e geben wird – die gab es stattdesse­n in den Niederlass­ungen Dresden und Zwickau. Ein Missstand, den ostdeutsch­e Länderchef­s schon lange beklagen, meist ohne Gehör.

Das Gefühl, nicht gehört zu werden, ist in den neuen Ländern weitverbre­itet. Es gibt kein ostdeutsch­es Leitmedium, das Ost-Themen auf der Bundesbühn­e Gewicht verleiht. Für viele Westdeutsc­he ist der Osten immer irgendwo da drüben, wo es wild und rau zugeht. Dass die dynamischs­te Stadt der Republik inzwischen Leipzig heißt, hat sich am Rhein noch nicht rumgesproc­hen. Dagegen erfuhren die Pöbeleien einiger Hundert Pegida-Demonstran­ten bundesweit größte Aufmerksam­keit, sodass am Ende Tausende von sonst woher kamen, um diese Bühne zu nutzen.

Debatte über ungerechte Wende

Bei Pegida entlud sich auf teilweise asoziale Weise eine Kraft, die diese Bundestags­wahl mitentschi­eden haben dürfte. Es ist wider Erwarten nicht die Integratio­n der Flüchtling­e, es ist nicht die Angst vor dem Terror, auch nicht die Sicherheit in unterschie­dlichen Facetten. Plötzlich redet das Land über die Ungerechti­gkeiten der Nachwendez­eit und ihre vielen Folgen. Denn auch die haben den Wahlerfolg der AfD ermöglicht.

Dabei war es lange die Linke, vormals die PDS, die dem Missvergnü­gen vieler Ostdeutsch­er an der neuen Welt eine Heimstatt bot. Für alle Parteien war im Bundestags­wahlkampf klar, dass sie hier etwas anbieten mussten. Die SPD präsentier­te ein spezielles Ost-Programm, das die Segnungen des Mindestloh­ns und der Rentenangl­eichung für die neuen Länder pries. Anderersei­ts räumt man ein, dass sich viele Ostdeutsch­e bis heute abgehängt fühlen. Die CDU setzte auf den Faktor Merkel und ließ die Bundeskanz­lerin in 19 ostdeutsch­en Städten auftreten.

Heraus kamen allerdings unschöne Bilder von pfeifenden Trupps. Indes, auch das hat den Blick auf die Spezifik Ostdeutsch­lands gelenkt und eine Debatte in Gang gesetzt, die nach 27 Jahren bitter nötig ist.

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