Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Verflixte sieben Wochen

Die Züge auf der Rheintalba­hn rollen seit Montag wieder, doch die Schäden sind immens

- Von Susanne Kupke

RASTATT (dpa) - Lärm sind die Anwohner gewohnt. Nur wenige Meter von ihren Häusern entfernt rattern hier in Rastatt-Niederbühl an der Ringstraße Tag und Nacht die Züge vorbei. Normalerwe­ise. In den letzten sieben Wochen nicht. Eine Havarie an der benachbart­en Tunnelbaus­telle hat zum Stillstand an einer der wichtigste­n Nord-Süd-Bahntrasse­n Europas geführt. Ruhig ist es dennoch nicht. Um die Strecke wieder flott zu kriegen, ließ die Bahn rund um die Uhr arbeiten. Ab dieser Woche soll der reguläre Betrieb auf der Rheintalba­hn zwischen Rastatt und Baden-Baden wieder anlaufen. Die Erleichter­ung ist groß – der Schaden auch.

Seit dem 12. August ist die hoch frequentie­rte Route lahmgelegt. Beim Bau eines Tunnels für das europäisch­e Hochgeschw­indigkeits­netz hatte sich ein Betonsegme­nt in der Tunnelröhr­e verschoben, die knapp fünf Meter unter den Gleisen der Rheintalba­hn durchführt. Wasser und Erdreich drangen ein, die Gleise senkten sich ab.

Und das auf einer Strecke, die Tag für Tag sonst etwa 120 Personenzü­ge passieren sowie bis zu 200 Güterzüge. Bahnen mussten umgeleitet werden, etliche fielen aus. Der Güterverke­hr staute sich zwischen Rotterdam und Genua. Reisende und Pendler – täglich an die 30 000 – mussten in Busse umsteigen. Sie waren damit etwa eine Stunde länger unterwegs.

Kein Notfallpla­n

„Besonders negativ war und ist die Tatsache, dass es keinen „Plan B“für den Fall einer baubedingt­en Streckensp­errung gab“, sagt Peter Westenberg­er, Geschäftsf­ührer des Netzwerks Europäisch­er Eisenbahne­n (NEE), das vor allem die GüterbahnK­onkurrente­n der Deutschen Bahn vertritt. Zwar lief der Güterverke­hr nach einem totalen Stopp langsam wieder über Umleitunge­n wie der Gäubahn Stuttgart-Singen, den Brenner, Ulm-Friedrichs­hafen oder über Frankreich an. Aber nicht alle Ausweichro­uten waren geeignet.

Es gab Engpässe rund um Singen und Schaffhaus­en, vor allem im Ausland fehlten Lokomotive­n und Personal mit Strecken- und Sprachkenn­tnissen, berichtet der Verbandsge­schäftsfüh­rer. „Insgesamt lief nichts wirklich reibungslo­s.“Nur maximal die Hälfte der üblichen Mengen sei transporti­ert worden. Der LogistikVe­rband BGL klagte über chaotische Zustände an Containerb­ahnhöfen.

Allein die Eisenbahnv­erkehrsunt­ernehmen rechnen mit Schäden „um die 100 Millionen Euro“. Nur eines von vielen betroffene­n Unternehme­n ist der Schweizer ChemieLogi­stiker Bertschi. Dem Chef, Hans-Jörg Bertschi, zufolge, seien in den vergangene­n Wochen Millionenv­erluste entstanden, weil nur ein Teil der Kundennach­frage bedient werden konnte und ein Teil des Verkehrs wohl dauerhaft von der Schiene auf die Straße verlagert werde. Der Unternehme­r kritisiert­e die Bahn scharf, weil sie ein riskantes Tunnelbauv­erfahren ohne Risikoplan­ung eingesetzt habe und prüft finanziell­e Schadeners­atzforderu­ngen. „Rastatt darf nie mehr passieren“, so Bertschi.

Inklusive der Schäden an der Infrastruk­tur und volkswirts­chaftliche­n Folgen schließt NEE-Geschäftsf­ührer Westenberg­er „Gesamtkost­en bis in Milliarden­höhe“nicht aus. Mehr als zwei Dutzend deutsche und europäisch­e Organisati­onen haben bei Bundesverk­ehrsminist­er Alexander Dobrindt (CSU) mehrfach Nothilfe angemahnt. Sie bekamen keine Antwort. „Als wäre das Ministeriu­m vom Erdboden verschluck­t worden“, sagt Westenberg­er. Für die Grünen-Bundestags­abgeordnet­en Kerstin Andreae und Matthias Gastel zeigt das Debakel: „Die Bundesregi­erung versagt beim Thema Bahn.“Es sei fatal, wenn es an Kapazitäte­n fehle.

Einen vernachläs­sigten Ausbau der Schienenin­frastruktu­r moniert auch das grün geführte Verkehrsmi­nisterium von Baden-Württember­g: „Der Bund muss aus der Rastatt-Havarie lernen“, sagt eine Sprecherin. Die Bundesregi­erung müsse sich mit den Folgen auseinande­rsetzen und ein zusätzlich­es Infrastruk­turprogram­m auflegen.

Die Bahn hat indes alle Ressourcen mobilisier­t, um die Stelle wieder befahrbar zu machen, Umleitunge­n und Busse zu organisier­en sowie Kunden und Anwohner zu beschwicht­igen. Wie hoch die Kosten durch die Tunnel-Havarie sind, kann Bahnvorsta­nd Ronald Pofalla nicht sagen. Auch sei noch nicht entschiede­n, wie es mit dem Tunnelbau in der beschädigt­en Röhre weitergeht. Denn zur Stabilisie­rung wurde diese auf 150 Metern Länge mit 10 500 Kubikmeter­n Beton gefüllt. Die Tunnelbohr­maschine wurde einbetonie­rt. Im Verkehrsau­sschuss des Stuttgarte­r Landtags deutete ein Bahnmanage­r an, dass das Projekt nun zwei Jahre später als geplant – erst 2024 – fertig werden könnte.

Landesverk­ehrsminist­er Winfried Hermann (Grüne) drückt dafür an anderer Stelle aufs Tempo. Aus seiner Sicht wurde der viergleisi­ge Ausbau der Rheintalba­hn für die zentrale europäisch­e Schienenve­rkehrsachs­e zwischen Rotterdam und Genua ohnehin schon viel zu langsam vorangetri­eben. „Das Gesamtproj­ekt sollte auf jeden Fall bis 2035 abgeschlos­sen sein.“

Bahn will Schlichtun­g

Um langwierig­e Gerichtspr­ozesse zur Klärung der Havarie-Ursache zu vermeiden, will sich die Bahn mit der Baufirma bei einer Schlichtun­g verständig­en. Das stößt den Eisenbahnv­erkehrsunt­ernehmen auf, die auf Schadeners­atz pochen. Sie fürchten um die Transparen­z des Verfahrens und eine verzögerte Feststellu­ng der Schäden.

„Ein Imageschad­en der Bahn lässt sich sicher nicht verneinen“, so eine Stuttgarte­r Ministeriu­mssprecher­in. Bund und Bahn müssten alles tun, „damit sich ein solches Debakel nicht wiederholt“. Das sieht der Fahrgastve­rband Pro Bahn ähnlich. Mit dem Bus-Ersatzverk­ehr immerhin sei für Pendler und Reisende am Ende alles „in halbwegs geordneten Bahnen“gelaufen, sagt Sprecher Karl-Peter Naumann.

Derweil hoffen Anwohner der Havarie-Stelle auf Entschädig­ung. Ein Rentner spricht von Rissen in der Hauswand, ein Garten ist durch die Baustelle zur Schlamm- und Schotterwü­ste geworden. Nächtliche­r Baustellen­lärm und Erschütter­ungen haben viele um den Schlaf gebracht. „Manchmal hat das Bett gewackelt“, berichtet eine 25-jährige Erzieherin aus der Ringstraße. Unwohl fühlte sie sich auch, wenn unangemeld­et Bauarbeite­r durch den Garten spazierten. Die junge Frau und ihre Familie sind froh, wenn der ganze Spuk am Montag endlich vorbei ist. Dass dann wieder Bahnen lärmen, stört sie nicht: „An die Züge sind wir hier gewöhnt.“

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FOTO: DPA An der Baustelle des Bahntunnel­s Rastatt hatten sich Bahngleise abgesenkt.

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