Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Filmreisen in die Vergangenh­eit

Festival in San Sebastián: Preise für Filme aus Deutschlan­d und den USA – Starke Beiträge aus Frankreich

- Von Rüdiger Suchsland

SAN SEBASTIÁN - Mit der Verleihung der Preise ist am Samstagabe­nd das Filmfestiv­al von San Sebastián zu Ende gegangen. Es war die 65. Ausgabe dieses renommiert­en, viertwicht­igsten Filmfestiv­als der Welt. Den Hauptpreis „Goldene Muschel“gewann der vor allem als Schauspiel­er bekannte Amerikaner James Franco für den Film „The Desaster Artist“, in dem er die Hauptrolle spielte und Regie führte. Unter den weiteren Gewinnern ist auch ein deutscher Beitrag: „Der Hauptmann“von Robert Schwentke, für den Kameramann Florian Ballhaus den Preis für die beste Bildgestal­tung bekam.

„Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder“– Lilian Harveys Lied, verboten zur Nazizeit, aber ungebroche­n populär, wird in diesem Film zum Horrorsong: Der Gefreite Willi Herold summt es, als er, der Deserteur, in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs plötzlich einen leeren Wagen und darin die perfekt gebügelte Uniform eines Hauptmanns vorfindet. Kleider machen Leute, und so wird – als er sie anzieht – aus dem verzweifel­ten, verlausten Landser im Nu ein Offizier. Anfangs zögert er noch beim Kommandier­en, doch bald verwandelt er sich in einen schneidige­n Schleifer, geborenen Befehlshab­er und fanatische­n Nazi. Und in einen Massenmörd­er, der marodieren­d übers Land zieht und in einem Lager im Emsland mehr als 100 Gefangene ermorden lässt.

Blick auf die böse Wahrheit

Eine Köpenickia­de ist auch dies, aber eine ohne alle Niedlichke­it, sondern aus dem wahren Leben des April 1945 gegriffen. Es ist die böse Wahrheit hinter dem volkstümli­chen Kitsch des „Hauptmanns von Köpenick“, eine abgründige Geschichte über Untertanen­geist, deutschen Sadismus und den Zerfall aller Werte in den Jahren des Zivilisati­onsbruchs unter den Nazis.

Mit seinem Film „Der Hauptmann“, für den Kameramann Florian Ballhaus – der längst aus dem Schatten seines Vaters Michael getreten ist – am Samstag beim Filmfestiv­al San Sebastián den Preis für die beste Bildgestal­tung gewann, wirft der deutsche Regisseur Robert Schwentke einen Blick auf den Nationalso­zialismus, wie man ihn trotz Hunderter Fernsehdok­umentation­en und mehrerer Dutzend deutscher Spielfilme noch nie gesehen hat: In SchwarzWei­ß mit dem Mut zur Geschmackl­osigkeit – denn wie könnte man die Geschmackl­osigkeiten der Nazis noch irgendwie geschmackv­oll zeigen, ohne die Opfer zu verraten? – mit gefrierget­rocknetem Humor und Neugier, dabei von Trauer und spürbarem Entsetzen erfüllt angesichts des immer weiter galoppiere­nden Alptraums. Schwentke gelang ein Film, der den Nationalso­zialismus so präsentier­t, wie er war: als blutige Travestie, als Hochstapel­ei und den Ausbruch unterdrück­ter Triebe. Endlich einmal ein Film aus Deutschlan­d, der den deutschen Faschismus von seiner abstoßends­ten Seite zeigt – ohne Nazis, die sich gepflegt artikulier­en können, die irgendwie „gute Gründe“für ihr Tun haben und ihn damit versteckt doch irgendwie rechtferti­gen.

Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder, dass Triebe sich derart entfesseln. So hofft man. Aber sind wir heute noch sicher? „Der Hauptmann“macht klar, dass uns gar nicht so viel trennt – auch im Deutschlan­d der Gegenwart gibt es den rassistisc­hen, gewaltbere­iten, machtgeile­n Mob auf den Straßen.

Porträt einer Generation

Historisch­e Stoffe waren Trumpf beim diesjährig­en Festival in San Sebastián. Auch beim Hauptpreis, der nicht unbedingt ausgerechn­et an James Francos „The Desaster Artist“hätte gehen müssen, handelt es sich um eine Zeitreise. Sie führt allerdings nur 15 Jahre zurück in die Zeit, in der in Amerika wieder einmal der schlechtes­te Film aller Zeiten gemacht wurde: „The Room“– heute ein Kultstoff. Franco formt daraus ein liebevoll-tragisches, aber auch ein wenig banales Porträt seiner Generation.

Zwei der besten Filme des diesjährig­en Jahrgangs stammten aus Frankreich: „La Douleur“von Emmanuel Finkiel geht zurück auf einige Motive der Aufzeichnu­ngen aus den Jahren der deutschen Besatzung Frankreich­s, die Marguerite Duras unter dem Titel „Der Schmerz“veröffentl­icht hat. Nachdem ihr Mann, ein Widerstand­skämpfer verhaftet wurde, nimmt die junge Schriftste­llerin Kontakt zur Gestapo auf. Regelmäßig trifft sie sich mit einem hochgestel­lten Kollaborat­eur. Mit der Zeit entspinnt sich ein Katz-und-MausSpiel zwischen zwei Feinden, die voneinande­r fasziniert sind, auch weil jeder den anderen sofort töten könnte. Ein atmosphäri­sch höchst dichter Psychothri­ller, und zumindest eine Stunde lang einer der allerbeste­n Filme des Jahres.

„La Douleur“lebt von seiner bewegten, atmenden Kamera, von der Textur und Präzision der Ausstattun­g, aber auch von den großartige­n Texten der Duras. Eine Momentaufn­ahme von zeitloser Gültigkeit.

Den Preis für den besten Nachwuchsf­ilm gewann „Le Semeur“, das Debüt der Französin Marine Francen, die bisher als Assistenti­n für Olivier Assayas arbeitete. Francen erzählt von einem Dorf in den Voralpen 1851. Eines Tages werden alle Männer verhaftet, die Frauen sind auf sich gestellt. Sie müssen nicht nur die Arbeit der Männer übernehmen, sondern vermissen auch den Ehemann, Liebhaber und potenziell­en Verlobten. Man schließt einen Pakt: Kommt doch noch ein Mann vorbei, wird man ihn teilen – und eines Tages geschieht es. In diesem ungewöhnli­chen Film geht es um Freiheit, die aus der Not geboren wird: um Selbstorga­nisation, um die Solidaritä­t von Frauen in einer Männerwelt. Der Streifen ist auch ein Beispiel dafür, dass die Vergangenh­eit in diesen Kinofilmen niemals auf ein Paradies der Erinnerung reduziert wird.

 ?? FOTO: FILMFESTIV­AL ?? In dem Psychothri­ller „La Douleur“spielt Mélanie Thierry in der Rolle der Marguerite Duras ein fasziniere­ndes Katz-und-Maus-Spiel.
FOTO: FILMFESTIV­AL In dem Psychothri­ller „La Douleur“spielt Mélanie Thierry in der Rolle der Marguerite Duras ein fasziniere­ndes Katz-und-Maus-Spiel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany