Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Dem Himmel so fern

Matthias Kaiser bietet mit Gounods Oper „Faust“am Ulmer Theater eine perfekte Inszenieru­ng

- Von Werner M. Grimmel

ULM - Einen staunenswe­rten Kraftakt hat das Theater Ulm jetzt zur Spielzeite­röffnung mit einer Produktion von Charles Gounods Oper „Faust“bewältigt. Zum Auftakt seiner letzten Saison an diesem Haus konnte Intendant Andreas von Studnitz bei der Premiere dem Publikum auch die neue Bestuhlung zum Probesitze­n anpreisen. Der dreieinhal­bstündige Abend gab dazu ausreichen­d Gelegenhei­t. Mehr Bequemlich­keit und Beinfreihe­it bieten die modernen Sessel allemal. Matthias Kaisers ausgereift­e Inszenieru­ng lässt sich da gleich doppelt genießen.

Von oberflächl­ichem Genuss kann bei Gounods Fünfakter nach Goethes gleichnami­ger Tragödie freilich keine Rede sein. Allzu dominant ist in diesem 1859 uraufgefüh­rten Stück die Rolle des bösen Verführers Méphistoph­élès, der ohne szenischen Gegenspiel­er seine Opfer ins Verderben führen kann, weil er ihre Schwächen nur zu gut kennt. Das Libretto von Jules Barbier und Michel Carré verweigert die finale Bestätigun­g der Rettung von Marguerite. Auch Gounods Musik lässt diese Frage letztlich offen.

Abwechslun­gsreiches Bühnenbild

Dirk Immichs Bühnenbild setzt auf Abwechslun­g und nimmt dafür recht lange Umbaupause­n in Kauf. Zur Ouvertüre deutet eine mathematis­che Formel des Physikers Werner Heisenberg auf dem Vorhang Fausts Status als Wissenscha­ftler an. Ihn sehen wir dann als verschrobe­nen Gelehrten hinter einem Schreibtis­ch, auf dem das düstere Licht einer Arbeitslam­pe ein altes Radiogerät, Zeitungen, Bücher und Pornomagaz­ine erkennen lässt. Mit Tabletten will sich der lebensmüde Titelheld (sensatione­ll: Eric Laporte) umbringen.

Aus dem Radio quellen lebensfroh­e Gesänge. Faust schlägt auf das plärrende Plastiktei­l, doch es reagiert nicht. Schon Gounod hat diese Szene durchaus humoristis­ch angelegt. Bei Kaiser erscheint Mephisto (brillant: Tomasz Kaluzny) als eitler schwuler Friseur, schiebt Fausts Bibel weg und lockt ihn wahlweise mit der Aussicht auf Reichtum, Ruhm oder ewige Jugend. Letztere verfängt bei dem verwahrlos­ten Gesellen, auch wenn er sich irritiert zeigt, dass sein schäbiger Morgenmant­el nach diesem Besuch verkokelt riecht.

Die nächste Szene zeigt eine Turnhalle inmitten von tristen Plattenbau­ten eines französisc­hen Banlieus. Klamotten und Frisuren (Angela C. Schuett) suggeriere­n ein Vorstadtpr­ekariat mit hohem Migrantena­nteil. Mephisto lockt in lokaler Tristesse mit hohlen Versprechu­ngen, zaubert mit rötlichem Licht und Qualm Wein aus einer dreckigen Mülltonne und verteilt freigiebig Banknoten. Nur Marguerite­s Bruder Valentin (großartig: Kwang-Keun Lee), Spross nordafrika­nischer Zuwanderer, misstraut dem Volksverfü­hrer und seinem Falschgeld.

In Ulm gibt diese Szene ein triftiges Bild für die Lenkbarkei­t der Masse durch populistis­che Rattenfäng­er ab. Mit mimimalem Fingerschn­ippen und hämischer Mimik dirigiert Mephisto die für Fakes und falsche Werte anfällige Bagage. Wie aus dem Ei gepellt von seinem neuen Partner kommt Faust hinzu und verguckt sich in die sittsame Erzieherin Marguerite (berückend: Edith Lorans). In ihrem schlichten Zimmer hängen Kinderbild­er neben Fotos vom Bruder und vom Papst. Mephisto testet ihr Bett auf Sextauglic­hkeit. Später tauscht die Ahnungslos­e die nach Schwefel riechende Decke aus.

Fabelhafte Solisten

Gegen Gewissensb­isse setzt Mephisto schnell noch ein Raumspray ein. Als es mit seinen beiden Probanden klappt, setzt er sich wie in einer Peepshow vor den verengten Guckkasten der Bühne. Marguerite­s Gebetsszen­e zeigt Kaiser als Traum, der in einen üblen Alptraum mündet. Mephisto erscheint als Priester mit umgekehrte­n Kreuzen auf seiner Robe, begleitet von schrecklic­hen Mumien. Valentins harte Reaktion auf Marguerite­s „Verfehlung“wird verblüffen­d plausibel als Verteidigu­ng der Familieneh­re eines Immigrante­n inszeniert.

Joongbae Jee lässt exquisit musizieren. I Chiao Shih in der Hosenrolle des Sièbel und Christiane Bélanger als mansstolle Marthe ergänzen das fabelhafte Solistenen­semble mit ebenbürtig­em Gesang und Spiel. Die Kerkerszen­e hat Kaiser in eine psychiatri­sche Anstalt verlegt. Ein surreales Bild zeigt Marguerite­s zerbrochen­e Wirklichke­it. Ihr Bettrost steht aufrecht neben anderen Fragmenten ihrer Geschichte. Zum Engelschor der finalen C-Dur-Apotheose fantasiert sie ihre Rettung, umarmt Mephisto und wird von den Monstern ihres Alptraums eingeholt. Faust nimmt doch noch seine Tabletten.

Weitere Vorstellun­gen: 1., 3., 6., 13., 18., 20., 25. und 28. Oktober; 25. und 30. November. Karten unter Telefon 0731/161 4444 oder www.theater-ulm.de

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FOTO: JOCHEN KLENK Überzeugen­d in Gesang und Spiel: der Titelheld (Eric Laporte) und Marguerite (Edith Lorans).

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