Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Ein schmerzhafter Kompromiss
Land geht gegen Stuttgarter Fahrverbotsurteil vor – Kretschmann in Erklärungsnot
STUTTGART (lsw) - Am Freitag ging die grün-schwarze Regierungskoalition in Baden-Württemberg noch im Streit auseinander. Am Montag gab es im Telefonat von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) mit Vize-Regierungschef Thomas Strobl (CDU) dann die Einigung. Das Land geht gegen das Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts zu Fahrverboten für Dieselautos vor und legt Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein. Die Grünen wollten eine Annahme des Urteils. Die CDU hatte eigentlich für eine Berufung plädiert, die das Stuttgarter Urteil umfassend überprüft hätte. Was bedeutet der Kompromiss nun für die Beteiligten?
Für die Anwohner: Während Kretschmann und Strobl telefonierten, demonstrierte vor dem Staatsministerium die Bürgerinitiative Neckartor für eine Annahme des Stuttgarter Fahrverbotsurteils. Vergeblich. Die von Stickoxiden und Feinstaub geplagten Anwohner stark befahrener Straßen können nun nicht mit der schnellstmöglichen Reduzierung der Luftbelastungen rechnen. Es wird erst einmal keine Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge in der Stadt geben, da das Urteil nicht rechtskräftig wird. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet erst im Laufe des kommenden Jahres, ob das Stuttgarter Urteil so in Ordnung ist oder nicht, vielleicht am 22. Februar. Dann wird ein vergleichbarer Fall aus Nordrhein-Westfalen verhandelt. Der Trost: Parallel will die Regierungskoalition weitere Maßnahmen zur Luftreinhaltung in der Landeshauptstadt auf den Weg bringen. Für Diesel und die Fahrer:
Fahrverbote kommen zunächst nicht. Doch mittel- bis langfristig sind sie nicht vom Tisch. Das hängt zum einen davon ab, wie das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entscheidet. Die Frage ist zum Beispiel, ob es der Auffassung des Verwaltungsgerichts Stuttgart folgt, dass das Land in Eigenregie Zonen einrichten darf, in die ältere Diesel-Autos nicht fahren dürften. Primär zuständig ist dafür eigentlich der Bund. Zum anderen könnte es sein, dass eine neue Bundesregierung – vielleicht ein Jamaika-Bündnis aus Union, Grünen und FDP – doch eine blaue Plakette einführt, auf die die Grünen seit langem vehement pochen. Dann dürften besonders dreckige Dieselfahrzeuge nicht mehr in Umweltzonen hineinfahren.
Für die Grünen: Sie waren in der Frage des Umgangs mit dem Stuttgarter Urteil gespalten. Viele in der Landtagsfraktion und in der Landespartei
plädierten für eine Annahme des Urteils. Denn die Ökopartei ist doch erklärtermaßen für Umweltund Gesundheitsschutz. Ministerpräsident Kretschmann soll hingegen schon länger zu Rechtsmitteln tendiert haben. Nun entsteht der Eindruck, die Grünen seien vor der Autolobby und dem Koalitionspartner eingeknickt. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) bezeichnete die Einigung auf eine Sprungrevision als „Armutszeugnis“der Landesregierung. Andererseits gibt es nach der Sprungrevision binnen weniger Monate höchstrichterliche Rechtssicherheit bei diesem bedeutsamen und heiklen Thema Fahrverbote – auch für andere Städte in Deutschland.
Für die CDU: Gemeindetag, Arbeitgeber und überhaupt die Wirtschaft: Sie alle machten kräftig Druck auf die CDU, Berufung gegen das Stuttgarter Urteil einzulegen. Denn aus ihrer Sicht muss das Land alles tun, um Fahrverbote zu verhindern. Erst vor rund einer Woche erklärte Regierungsvize Thomas Strobl (CDU), dass aus seiner Sicht eine Berufung angesagt sei, damit neue Maßnahmen zur Luftreinhaltung in einer erneuten Bewertung eines Gerichts berücksichtigt werden könnten.
Denn das geht nur in der Berufung – nicht in der Sprungrevision. Im Koalitionsausschuss am Freitag pochte die CDU auf dieses Mittel. Es kam keine Einigung zustande. Die Zeit lief dabei für die Grünen: Hätte sich die Landesregierung bis Mittwoch nicht geeinigt, wäre das Stuttgarter Luftreinhaltungsurteil automatisch rechtskräftig geworden. Tatsächlich ist deshalb die Sprungrevision auch für die CDU ein schmerzhafter Kompromiss.