Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein stiller Buchhalter

Stephen Paddock hat in Las Vegas mindestens 59 Menschen erschossen – Nichts, was aus seinem Leben bekannt ist, deutet auf die Tat hin

- Von Frank Herrmann

WASHINGTON - Unauffälli­g und ein wenig kontaktsch­eu, sagen Bekannte über Stephen Paddock, ein stiller Buchhalter sei er gewesen. Seit Kurzem pensionier­t, lebte er in einer Rentnerkol­onie in der Nähe eines Golfplatze­s in Mesquite, einer Kleinstadt in der Wüste Nevadas, gut eine Autostunde nordöstlic­h von Las Vegas. Sein Bruder Eric beschreibt ihn als wohlhabend­en Mann.

Allein in Nevada soll er zwei Wohnungen besessen haben, eine in Mesquite, die andere in Reno, der Casinohoch­burg, die so etwas ist wie ein kleineres, nicht ganz so glitzernde­s Las Vegas. Mit seiner Lebensgefä­hrtin sei er viel gereist, des Öfteren auf Kreuzfahrt­schiffen über die Meere gefahren, erzählte Eric Paddock dem Sender CBS. Stephen habe Poker gespielt, mit hohem Einsatz. Einmal habe er ihn per SMS wissen lassen, dass er gerade 250 000 Dollar gewonnen habe. Über Spielschul­den sei nichts bekannt gewesen, auch sonst gebe es nichts, was seine furchtbare Tat auch nur im Ansatz erkläre. Drogen, mentale Störungen, Alkoholpro­bleme, nichts davon treffe seines Wissens auf Stephen zu. Der Schock treffe ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, fügte Eric hinzu. „Es ist, als wäre gerade ein Asteroid auf unsere Familie herabgestü­rzt.“

Keine fanatische­n Ideen

Nichts von dem, was man bislang weiß über das Leben Stephen Paddocks, trägt wirklich zur Erhellung bei. Nichts hilft auch nur ansatzweis­e zu verstehen, was den 64-Jährigen dazu brachte, von einer Suite im Hotel „Mandalay Bay“in Las Vegas auf Konzertbes­ucher am Strip zu schießen, an der legendären Amüsiermei­le der Wüstenstad­t mit ihren künstliche­n Pyramiden, nachgebaut­en Eiffeltürm­en und imitierten New Yorker Wolkenkrat­zern.

Durch fanatische Ideen sei er nicht aufgefalle­n, betonen seine Brüder Eric und Patrick. Für irgendeine Ideologie habe er sich nie interessie­rt. Es fällt schwer, angesichts der bisher bekannt gewordenen Bruchstück­e seiner Vita zu glauben, was die Terrormili­z „Islamische­r Staat“verkündet: Dass Paddock, vor Monaten zum Islam konvertier­t, einer ihrer „Soldaten“gewesen sei. Bisher gebe es keine Beweise, nach denen der Schütze Verbindung zu einer internatio­nalen Terrororga­nisation hatte, kommentier­t das FBI.

Die Welt eines Psychopath­en

In den Achtzigerj­ahren arbeitete Paddock für ein Unternehme­n, das heute zum Rüstungsko­nzern Lockheed Martin gehört. 2003 machte er seinen Pilotensch­ein, um Privatjets fliegen zu können. Was man inzwischen an Details aus seiner Biografie kennt, es führt alles nicht weiter. Das Rätselrate­n, Joseph Lombardo, der Sheriff von Las Vegas, bringt es auf einen prägnanten Satz. „In die Gedankenwe­lt eines Psychopath­en kann ich mich nicht hineinvers­etzen.“

Fest steht wohl, dass das Massaker nicht dem spontanen Entschluss eines Amokläufer­s entsprang. Im Gegenteil, der Rentner hat sie akribisch vorbereite­t. Nachdem er ein Zimmer im 32. Stockwerk des „Mandalay Bay“gemietet hatte, legte er dort ein regelrecht­es Waffenlage­r an. Mindestens 23 Feuerwaffe­n, in mindestens zehn Koffern, so Sheriff Lombardo, soll er nach und nach auf das Hotelzimme­r gebracht haben, zumeist Gewehre, einige versehen mit Zielfernro­hren. Mit einem schweren Gegenstand, womöglich einem Vorschlagh­ammer, zertrümmer­te er Fenstersch­eiben, dann verschanzt­e er sich in der 32. Etage wie hinter den Zinnen einer Burg. Die halbautoma­tischen Waffen, die Paddock nach jetzigen Erkenntnis­sen benutzte, konnte er legal in Nevada erwerben, hätte sie jedenfalls legal dort erwerben können. Da er nicht vorbestraf­t war, stellte der Computerab­gleich mit dem Strafregis­ter, wie ein Waffenhänd­ler mit Lizenz ihn vornehmen muss, für ihn keine Hürde dar. In seinem Haus in Mesquite seien neben Schusswaff­en und Tausenden Patronen Sprengstof­f gefunden worden, Tannerit und Ammoniumni­trat, teilte die Polizei mit.

Manches erinnert an Charles Whitman, der am 1. August 1966 im texanische­n Austin vom Uhrenturm der Universitä­t wahllos auf Passanten feuerte. Whitman, ein Ex-Student, der sich als Handwerker ausgab, war mit einer Kiste voller Gewehre im Aufzug in den 27. Stock des Turmbauwer­ks gefahren und zur Aussichtsp­lattform hinaufgest­iegen, von wo er auf alles zielte, was sich unten bewegte. Seine Opfer nahm er nach dem Zufallspri­nzip ins Visier, als wäre es eine Lotterie des Horrors. 96 Minuten lang schoss er, nach 96 Minuten hatte er 14 Menschen getötet, bis er selber von einem Polizisten aus nächster Nähe erschossen wurde. Wie Whitman verschanzt­e sich auch Paddock in großer Höhe, um das umliegende Gelände kontrollie­ren zu können, in diesem Fall das Konzertare­al auf der anderen Seite des Las Vegas Strip. Doch während Whitman bei der Marineinfa­nterie gedient hatte und als erstklassi­ger Scharfschü­tze galt, ist von Paddock nichts dergleiche­n bekannt. Weder habe er einen „militärisc­hen Hintergrun­d“, noch sei er als Waffennarr aufgefalle­n, sagt sein Bruder Eric.

Vater war Bankräuber

Der Vater, Patrick Paddock, stand einst auf der Liste der „Ten Most Wanted“, mit deren Hilfe das FBI nach den zehn meistgesuc­hten Straftäter­n fahndete. 1961 war der Senior nach einer Serie von Banküberfä­llen zu 20 Jahren Haft verurteilt worden, 1968 aus dem Gefängnis geflohen. Seine drei Söhne hätten praktisch nichts von ihm gehabt, heißt es in amerikanis­chen Medienberi­chten. Aber was tragen solche Informatio­nsfetzen schon bei zur Suche nach dem Motiv?

Wie es häufig der Fall ist nach einem solchen Verbrechen, ist in Washington eine Waffendeba­tte in Gang gekommen, ein Diskurs, dem Skeptiker prophezeie­n, dass er schon bald im Sande verlaufen wird. „Das muss aufhören“, fordert der Demokrat Chris Murphy, ein Senator aus dem Neuengland­staat Connecticu­t. In den USA seien Massenschi­eßereien zu einer Epidemie geworden. Ihn packe die Wut, wenn er sehe, wie ängstlich sich viele seiner Kollegen vor der Waffenlobb­y wegduckten, vor einer Lobby, die regelmäßig zum Spendensch­eck greife, um die Kongress-Wahlkämpfe zu finanziere­n, vor allem jene der Republikan­er. „Sie haben solche Angst, dass sie behaupten, es könne keine politische­n Antworten auf diese Epidemie geben“, wettert Murphy. Es gebe sie aber, und die Gebete von Politikern hörten sich auf brutale Weise hohl an, wenn ihnen nicht endlich Gesetze gegen den Waffenwahn folgten.

Allerdings glaubt kaum jemand, dass nun ein Ruck durchs Parlament geht und es Leuten wie Murphy gelingt, den Senat zum Handeln anzustache­ln. In der jüngeren Vergangenh­eit ist noch jeder Anlauf zu einer Verschärfu­ng der Waffengese­tze am Widerstand von Volksvertr­etern gescheiter­t, die sich auf den zweiten Zusatzarti­kel zur Verfassung berufen. Auf jenes 1791 beschlosse­ne „Second Amendment“, welches das Recht auf privaten Waffenbesi­tz garantiert, einer Logik folgend, nach der es die Milizen freier Bürger sind, die die junge Demokratie notfalls vor der Tyrannei retten.

Nicht einmal im Dezember 2012, als die Nation nach dem Mord an 20 Erstklässl­ern in einer Grundschul­e in Newtown schockiert war wie nach kaum einem anderen Amoklauf, vermochte der Kongress den Trend zur privaten Aufrüstung umzukehren. Zu mächtig war die Stimme Wayne La Pierres, des Sprechers der National Rifle Associatio­n (NRA), der verlangte, vielmehr die Schulen umgehend aufzurüste­n. „Der Einzige, der einen bösen Kerl mit einer Knarre stoppen kann, ist ein guter Kerl mit einer Knarre“, wiederholt­e er eine Standardfl­oskel.

Waffenkont­rolle kein Thema

Auch im Juni 2016, als der Sohn eines Einwandere­rs namens Omar Mateen in einem Schwulencl­ub in Orlando 49 Menschen tötete, blieb alles beim Alten. Immerhin residierte damals mit Barack Obama ein Präsident im Weißen Haus, der sich darüber beklagte, wie einfach es sei, an Flinten zu kommen. Sein Nachfolger Donald Trump hat das Wort Waffenkont­rolle in den Stunden nach dem Schrecken von Las Vegas weder erwähnt, noch lässt seine Vorgeschic­hte erwarten, dass er sich für strengere Regeln ins Zeug legen wird. Im Duell gegen Hillary Clinton zählte auch die NRA zu Trumps Stützen, und deren rund fünf Millionen Mitglieder­n hatte er auf Wahlkampfb­ühnen versproche­n, am Status quo in keiner Weise zu rütteln.

Kein Schwarzer, kein Araber

Der scheinbar festgezurr­te Status quo: Wie ihn James Fallows skizziert, ein hochangese­hener Kolumnist der Zeitschrif­t „The Atlantic“, klingt es resigniert – und zugleich sarkastisc­h. Es gebe zwei dunkle Wahrheiten, schreibt Fallows. Erstens werde man diese Schießerei­en nicht stoppen, „es wird weitergehe­n, wir alle wissen das, was die unmittelba­re Woge der Trauer noch schlimmer macht“. Zweitens sei jedem klar, „dass sich alles an der Berichters­tattung und den politische­n Reaktionen ändert, wenn sich herausstel­lt, dass der Killer ‚bloß‘ ein weißer amerikanis­cher Mann ist, dessen Name nicht nach einem Migranten klingt“. Man stelle sich vor, der Name des Täters hätte einen arabischen Klang, dann wäre dies jetzt eine neue Episode des Dschihad. Hätte es sich bei dem Schützen um einen Mexikaner gehandelt, wären sofort die Gefahren der Immigratio­n an die Wand gemalt worden. „Und wäre es ein Schwarzer gewesen, dann zittere ich bei dem Gedanken, mir die Folgen vorzustell­en.“

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FOTO: COURTESY OF ERIC PADDOCK/AP/DPA Dieses undatierte Foto von Stephan Paddock hat sein Bruder Eric Paddock veröffentl­icht.
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FOTO: AFP Aus diesen Fenstern des „Mandalay Bay“schoss Paddock.
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FOTO: AFP In diesem unscheinba­ren Haus in Mesquite lebte der Attentäter.

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