Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Martin Schulz stellt die Existenzfr­age

Der SPD-Chef hat mit sich gerungen – Er will weitermach­en und die Partei neu aufstellen

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Wie kommt die SPD wieder aus der Misere? Mit Hoffen und Bangen verfolgen die Strategen im WillyBrand­t-Haus die Entwicklun­g in Niedersach­sen, wo sich am 15. Oktober entscheide­t, ob Stephan Weil als SPD-Ministerpr­äsident weitermach­en kann. Zur Zeit gibt es in Hannover ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Herausford­erer Bernd Althusmann von der CDU. Eine weitere Wahlschlap­pe könnte die SPD noch mehr demoralisi­eren.

SPD-Chef Martin Schulz findet die Lage seiner Partei dramatisch. „Es geht in den nächsten vier Jahren um nicht weniger als um die Existenz der deutschen, ja der europäisch­en Sozialdemo­kratie“, hat er in einem offenen Brief an die Genossen geschriebe­n.

„Die Leute finden mich peinlich“

Gerade erst hat der „Spiegel“eine sehr persönlich­e Reportage über Martin Schulz’ Wahlkampf veröffentl­icht. Über seinen Kampf auf verlorenem Posten, der bei der Bundestags­wahl mit der historisch­en Schlappe von 20,5 Prozent für die SPD endete. „Die Leute finden mich peinlich“, soll Schulz gegen Ende des Wahlkampfs geklagt haben, „die lachen doch über mich.“

Kann ein solcher Mann SPD-Chef bleiben? „Natürlich habe ich am Sonntagabe­nd mit mir gerungen und mich gefragt, ob es nicht besser wäre zurückzutr­eten“, schrieb Schulz fünf Tage nach dem Debakel an die Genossen. Doch dann sei er zu der Überzeugun­g gelangt, dass er zusammen mit der Partei den dringend notwendige­n Neuanfang der SPD voranbring­en möchte. Ja, sagen die meisten Abgeordnet­en. Allerdings hat er zugleich angekündig­t, dass er nicht SPD-Fraktionsc­hef werden möchte. Damit ist auch klar: Andrea

Nahles ist die neue Hoffnung der SPD. Doch an der Parteispit­ze bleibt Schulz. Der Heidelberg­er SPD-Abgeordnet­e

Lothar Binding hält diese Trennung von SPD-Parteivors­itz und Fraktionsv­orsitz für gelungen. Aufgabe des Parteivors­itzenden seien Visionen, die der Fraktion die Realisatio­n.

Die Folgen von Hartz IV

Wie aber will die SPD ihre Wähler wiedergewi­nnen? Immer noch, so Meinungsfo­rscher, gibt es jene, die von Schröders Hartz IV-Reformen enttäuscht sind. Aus der Sicht der SPD-Linken war es der Sündenfall der Partei, dass sie die Ängste der arbeitende­n Bevölkerun­g nicht ernst nahm. Konnte früher ein Facharbeit­er mit 55 Jahren darauf vertrauen, dass er bei plötzliche­r Arbeitslos­igkeit bis zur Rente rund die Hälfte seines Einkommens als Arbeitslos­enhilfe beziehen würde, so fällt er jetzt unter Hartz IV. Man müsse ein neues Modell zwischen der früheren Arbeitslos­enhilfe und dem heutigen Hartz IV schaffen, wünscht sich Lothar Binding. Ein Modell, das die Angst derjenigen reflektier­t, die Beschäftig­ung haben.

Mit der Demonstrat­ion sozialer Kompetenz ist auch Martin Schulz zu Beginn seines Wahlkampfs erfolgreic­h gewesen.Doch dann kam eine lange Sendepause, in der die Wähler auf konkretere Ansagen warteten. „Welche Antworten geben wir auf die zunehmende Angst, Überforder­ung und Verunsiche­rung in Teilen unserer Gesellscha­ft?“, fragt Schulz jetzt in seinem Brief an die Genossen. „Wie sichern wir unsere sozialen Systeme ab, wenn unsere Gesellscha­ft immer älter wird?“Oder wie sorge man dafür, dass die Digitalisi­erung nicht Arbeitsplä­tze gefährde, sondern neue schaffe? „Ein weiterer Wahlkampf, der sich diesen großen Fragen nicht stellt, ist zum Scheitern verurteilt“, so Schulz.

Mehr lernen durch Streit

Vor der niedersäch­sischen Landtagswa­hl werden allerdings wohl kaum neue Rezepte und Forderunge­naus dem Willy-Brandt-Haus kommen. Keiner will die Wahl in Niedersach­sen gefährden. Denn es geht auch darum, dass nicht alle großen Flächensta­aten von Nordrhein-Westfalen bis Bayern von der Union dominiert werden.

Der 67-jährige Lothar Binding, seit 1998 im deutschen Bundestag, seufzt und fordert in einem: „Wir müssen neuen Mut fassen.“Der Fehler einer Großen Koalition sei doch, dass man die eigenen Postionen nicht so klar darstellen kann. „Im Streit lernen die Leute mehr.“

Binding streitet gerne. So klärt der Parteilink­e seine Zuhörer auch gerne auf, dass der größte Lügner im Land der Durchschni­tt sei. Wenn es heiße, die Deutschen hätten ein Bruttoeink­ommen von 36 000 Euro im Schnitt, so gebe es doch welche, die nur ein Drittel davon haben. „Und die sich dann kaum wagen zu sagen, dass sie unterdurch­schnittlic­h sind.“Um genau diese Leute müsse die SPD sich kümmern.

Die SPD habe es sich mit allen verdorben, meinen Wahlforsch­er. Die linke SPD wolle nicht mit der Großen Koalition weitermach­en und die rechte SPD keine Bündnisse mit den Linken. Doch wohin will die SPD? Die Glaubwürdi­gkeit einer Partei hänge von ihrer Grundorien­tierung ab, so Matthias Jung von der Forschungs­gruppe Wahlen. Der Kurs von SPD und CDU sei für viele Wähler nicht mehr klar. Große Aufgaben warten auf Schulz – aber auch auf CDU-Chefin Angela Merkel.

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FOTO: DPA „Es geht um die Existenz der Sozialdemo­kratie“: SPD-Chef Martin Schulz will nach der Wahlnieder­lage den Neuanfang seiner Partei angehen.

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