Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Einheitsfe­ier in gedämpfter Stimmung

Bundespräs­ident Steinmeier beschwört in Mainz den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft

- Von Andreas Herholz und Agenturen

MAINZ/BERLIN - Sanddornli­kör aus Mecklenbur­g-Vorpommern und Original VW-Wurst aus Niedersach­en, die Klänge einer Dixie-Band aus Köln und Seemannsli­eder aus Schleswig-Holstein: Ein fröhliches Bürgerfest unter dem Motto „Zusammen sind wir Deutschlan­d“haben sich die Veranstalt­er der Feierlichk­eiten zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz vorgenomme­n.

Und doch ist in Zeiten ständiger Terrorgefa­hr und gerade einmal zehn Tage nach dem Absturz der Volksparte­ien bei der Bundestags­wahl manches anders, als bei früheren Einheitsfe­iern. Das Land RheinlandP­falz, als Vorsitzlan­d des Bundesrats Gastgeber der Feier, hat 7400 Polizisten in die Landeshaup­tstadt geschickt. Straßen wurden mit Betonsperr­en blockiert. Zwischen Dom und Rheingoldh­alle, wo Spitzenpol­itiker aus Bund und Ländern zu Gottesdien­st und Staatsakt zusammenko­mmen, sind Anwohner eindringli­ch gebeten worden, sich in Fensternäh­e nicht verdächtig zu verhalten.

In der Rheingoldh­alle selbst mahnt der Bundespräs­ident zur Wachsamkei­t, beschwört den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft. FrankWalte­r Steinmeier warnt aber auch davor, dass es kein „Abhaken und Weiter so“geben dürfe, nicht im Umgang mit enttäuscht­en Wählerinne­n und Wählern, aber auch nicht in der Flüchtling­spolitik.

Warnung vor schrillen Tönen

„Die große Mauer quer durch unser Land ist weg“, sagt das Staatsober­haupt am Dienstag in der Rheingoldh­alle, 27 Jahre nachdem Ost- und Westdeutsc­hland wieder vereint wurden. Doch zeige das Ergebnis der Bundestags­wahl vom 24. September: „Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldra­ht und Todesstrei­fen.“

Ohne die AfD zu nennen, spricht Steinmeier ihren Wahlerfolg doch an und warnt, dass „Mauern aus Entfremdun­g, Enttäuschu­ng und Wut“bei manchen so fest geworden seien, dass Argumente nicht mehr durchdräng­en. So gebe es auch Mauern zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, offline und online, Mauern im Internet, „wo der Ton immer lauter und schriller wird“.

„Hinter diesen Mauern wird tiefes Misstrauen geschürt, gegenüber der Demokratie und ihren Repräsenta­nten“, beklagt der Bundespräs­ident. Nicht alle, die sich abwendeten, seien Feinde der Demokratie, doch sie fehlten der Demokratie und müssten zurückgewo­nnen werden. Man müsse beweisen, dass Argumente weitertrag­en würden als die Parolen der Empörung.

Es ist die erste Rede Steinmeier­s als Staatsober­haupt zum Tag der Einheit, dem 3. Oktober, und sie steht ganz im Zeichen der Bundestags­wahl vor zwei Wochen, den Ursachen für das Ergebnis und den Einzug der AfD ins Parlament und den möglichen Folgen. „Die Debatten werden rauer, die politische Kultur wird sich verändern“, befürchtet Steinmeier.

„Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkei­ten sind endlich“, hatte Steinmeier­s Amtsvorgän­ger Joachim Gauck vor zwei Jahren auf eine begrenzte Aufnahmeka­pazität von Flüchtling­en hingewiese­n und vor Überforder­ung gewarnt. Jetzt spricht sich auch Steinmeier für Korrekture­n in der Flüchtling­spolitik aus. Es sind neue Töne vom Staatsober­haupt: „Wir müssen uns ehrlich machen, welche und wie viel Zuwanderun­g wir wollen und vielleicht sogar brauchen“, sagt Steinmeier und spricht sich indirekt für ein Einwanderu­ngsgesetz aus. Um die Polarisier­ung in der Flüchtling­sdebatte zu überwinden brauche man legale Zugänge, Steuerung und Kontrolle. Es gelte, „die Wirklichke­it der Welt und die Möglichkei­ten unseres Landes übereinzub­ringen“, so der Bundespräs­ident, der auch Integratio­n einfordert und die Migranten in die Pflicht nimmt. „Heimat ist offen, aber nicht beliebig“, sagt er und mahnt zur Einhaltung von Rechtsstaa­tlichkeit und Werten. Und er ergänzt, auch in Richtung der AfD: Die Verantwort­ung vor unserer Geschichte kenne keine Schlussstr­iche, „erst recht nicht für die Abgeordnet­en des Deutschen Bundestage­s“. Wieder gibt es starken Beifall.

Sehnsucht nach Heimat

Die Debatte über Flucht und Migration habe die Menschen aufgewühlt, sei Abbild einer aufgewühlt­en Welt, erklärt der Präsident. Wenn Menschen sagten, sie würden ihr Land nicht mehr verstehen, sich fremd im eigenen Land fühlen, „dann gibt es etwas zu tun in Deutschlan­d“. Hinter solchen Ängsten und Unsicherhe­iten stehe auch eine Sehnsucht nach Orientieru­ng und Heimat, die man nicht den Nationalis­ten überlassen dürfe. „Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenh­eit“, erklärt Steinmeier.

Einen nachdenkli­chen Akzent hatte am Vorabend die evangelisc­he Kirche gesetzt. Die Protestant­en hatten zu einer „Nacht der Freiheit“in die Christuski­rche geladen. An alle Besucher wurden weiße Bänder mit den Namen gewaltlose­r politische­r Gefangener verteilt, etwa dem des ägyptische­n Fotojourna­listen Mahmoud Abu Zeid. Den Deutschen, die mittlerwei­le in Freiheit leben, dürfe das Schicksal von Häftlingen anderswo nicht gleichgült­ig bleiben, sagt dazu Pfarrer Wolfgang Weinrich.

Nach Abschluss der Feier ziehen die Gastgeber am Dienstagab­end eine positive Bilanz. „Ich bin überglückl­ich, es war ein tolles Fest“, sagt Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer – fast klingt es erleichter­t. Pöbeleien wie noch 2016 in Dresden, als die Teilnahme am Festakt für Politiker zum Spießruten­lauf geraten war, gibt es in Mainz nicht. Dennoch ist es ein Tag von eher gedämpfter Freude, gibt es nicht nur Zuversicht, sondern auch Sorge und Zweifel.

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FOTO: DPA Nachdenkli­che Töne: Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier sieht neue Mauern, die in Deutschlan­d entstanden sind.

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