Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Frankreich macht den Ausnahmezu­stand zur Regel

Nach Anschlägen hatten Ordnungshü­ter Sonderrech­te bekommen – Nun werden viele davon in reguläres Recht überführt

- Von Christine Longin

PARIS - Die französisc­he Nationalve­rsammlung hat ein Anti-Terror-Gesetz verabschie­det, das den Ausnahmezu­stand ablösen soll. Menschenre­chtler kritisiere­n, dass die Justiz künftig nicht viel mitzureden hat.

Die Rue Chanez liegt im eleganten 16. Stadtbezir­k von Paris. In dieser ruhigen Wohngegend am Rande des Bois de Boulogne entdeckte ein Nachbar hinter der grünen Eingangstü­r zur Nummer 31 zwei Gasflasche­n, literweise verschütte­tes Benzin und ein Handy als Zünder. Alles deutet auf einen Anschlag hin, der am Wochenende in letzter Minute vereitelt wurde. „Die Tatsache, dass jemand ein Gebäude in einem schicken Viertel in die Luft sprengen wollte, ist ein Zeichen dafür, dass niemand in Sicherheit ist“, sagte Innenminis­ter Gérard Collomb. Am Dienstag stimmte die Nationalve­rsammlung in erster Lesung seinem neuen AntiTerror-Gesetz zu, das knapp zwei Jahre nach den Anschlägen von Paris den seither geltenden Ausnahmezu­stand beenden soll. Ein Teil der Maßnahmen soll dazu in normales Recht übernommen werden.

„Angesichts einer dauerhafte­n Bedrohung ist es notwendig, einen Ausstieg aus dem Ausnahmezu­stand anzustrebe­n und den Staat mit neuen juristisch­en Mitteln auszustatt­en, um der Terrorgefa­hr außerhalb des Ausnahmezu­stands zu begegnen“, erklärte die Regierung bei der Vorstellun­g des Entwurfs im Juni. Noch vor den Präsidente­n- und Parlaments­wahlen war ein Ausschuss der Nationalve­rsammlung zu dem Schluss gekommen, dass die im November 2015 erlassenen Regelungen nicht mehr viel bringen. Nachdem nach den Anschlägen in Paris mit 130 Toten noch Tausende Durchsuchu­ngen angeordnet worden waren, waren es zuletzt nur noch gut 20 im Monat. Die wenigsten mündeten in einem Gerichtsve­rfahren.

Hausarrest und Durchsuchu­ngen sollen auch künftig möglich sein. Die Kompetenze­n für die meisten Maßnahmen liegen aber nicht bei der Justiz, sondern beim Innenminis­ter und bei den Präfekten als Vertreter des Präsidente­n in den Départemen­ts. So können die Präfekten für Verdächtig­e einen Hausarrest verhängen, wenn eine Gefahr für die Sicherheit besteht. Sie können auch Kultstätte­n schließen, wenn dort gewaltverh­errlichend­e oder diskrimini­erende Ideen verbreitet werden. Bisher waren dafür Schriften als Grundlage nötig. Auch für Polizeikon­trollen beispielsw­eise rund um Bahnhöfe oder Flughäfen reicht der Beschluss des Präfekten. Lediglich für Hausdurchs­uchungen, die künftig „Besuche“heißen, braucht es – anders als unter dem Ausnahmezu­stand – nun die Erlaubnis eines Richters.

Der Menschenre­chtsbeauft­ragte Jacques Toubon kritisiert­e das neue Gesetz. „Es erlaubt die Einschränk­ung der Freiheiten auf der Grundlage eines Verdachts, eines Verhaltens, von Einstellun­gen, Kontakten oder Absichten“, sagte er in „Le Monde“.

Mehrheit für Neuregelun­g

In Frankreich finden die Maßnahmen aber Zustimmung: 57 Prozent sind laut einer Umfrage dafür. Einem Teil der konservati­ven Republikan­er und dem rechten Front National (FN) geht das Gesetz nicht weit genug. Sie kritisiere­n das Ende des Ausnahmezu­stands zu einem Zeitpunkt, wo die Terrorgefa­hr nach wie vor hoch ist. Das zeigten nicht nur die Sprengstof­ffunde in Paris, sondern auch der tödliche Messerangr­iff auf zwei junge Frauen vor dem Bahnhof von Marseille – in diesem Fall wurden am Dienstag fünf Verdächtig­e festgenomm­en; der Haupttäter war am Tatort von Polizisten erschossen worden.

„Das Gesetz verringert den Schutz der Franzosen“, sagte der konservati­ve Abgeordnet­e Guillaume Larrivé zu den Neuregelun­gen. Er stimmte ebenso wie die Abgeordnet­en vom FN, Kommuniste­n und Linkspopul­isten gegen das Anti-Terror-Gesetz, das aber trotzdem mit 415 zu 127 Stimmen verabschie­det wurde.

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FOTO: DPA Polizist vor dem Bahnhof in Marseille: Hier waren am Sonntag zwei Frauen getötet worden – womöglich war es ein Terrorakt.

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