Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Schockiere­nd menschlich

- Von Philipp Richter

Wäre ich in der Lage, Menschenfl­eisch zu essen? Wozu bin ich imstande, ginge es ums bloße Überleben in der größten Not? Diese Fragen begleiten den Leser von Franzobels neuem Roman „Das Floß der Medusa“. Dem österreich­ischen Autor, der mit bürgerlich­em Namen Franz Stefan Griebl heißt, ist ein herausrage­ndes Werk gelungen, das sich schonungsl­os mit dem Wesen des Menschen auseinande­rsetzt, mit dem Wert unserer Moral und unserer Kultur. Er stellt unsere Gefühle auf die Probe und zwingt zum Nachdenken.

Im Kern des fast 600 Seiten zählenden Romans geht es um ein Schiffsung­lück vor 200 Jahren vor der Küste Mauretanie­ns, das sich tatsächlic­h zugetragen hat. Die Fregatte „Méduse“, wie das echte Schiff heißt, läuft vom französisc­hen Festland aus in die Kolonie Senegal. An Bord sind 400 Menschen, die alle einen unterschie­dlichen Antrieb haben, nach Afrika zu gehen. Sie wollen einfach nur arbeiten, Karriere machen, vor zu Hause fliehen, ein Abenteuer wagen oder reich werden. Doch die Reise endet für die Medusa auf einer Sandbank. Weil nicht alle in die Rettungsbo­ote passen, baut man für 150 Menschen ein Floß, um sie zu retten, überlässt sie aber dann mitten auf dem Ozean sich selbst. Der heißen Sonne Afrikas ausgesetzt, mit ein paar Schlucken Wein an Bord, beginnen für die Menschen 13 Tage unerträgli­che Qualen. Am Ende überleben 15. Der französisc­he Maler Théodore Géricault hat diese Katastroph­e in seinem berühmten Gemälde „Das Floß der Medusa“1819 verewigt. Eine Reprodukti­on ziert das Buchcover.

Was auf dem Schiff und später auf dem Floß passiert, lässt dem Leser das Blut in den Adern gefrieren. Für Seefahrerr­omantik (sollte es sie je gegeben haben) lässt der Autor selbst auf der Schifffahr­t keinen Platz. Unverblümt und realitätsg­etreu beschreibt Franzobel, wie Menschen leiden und zu Tieren werden, nur noch von einem Gedanken angetriebe­n: nicht zu sterben. Der Autor schreckt nicht davor zurück, die Geschmacks­variatione­n von Urin und Menschenfl­eisch zu beschreibe­n. „Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr“, schreibt Franzobel und könnte es schöner und treffender nicht ausdrücken. Der Österreich­er schreibt modern, spannend, flüssig, szenisch, bleibt aber nicht hängen, die Handlungss­tränge immer im Blick. Er moderiert selbst, hat sein Werk mit gut recherchie­rten Fakten gespickt, bleibt am Kern des Themas, das so aktuell ist wie 1816. Dass er sich manchmal in der Seemannssp­rache verliert, kann man ihm getrost verzeihen. Ein schockiere­nd menschlich­es Buch.

Franzobel: Das Floß der Medusa, Zsolnay-Verlag, 592 Seiten. 26 Euro

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