Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Literarisc­her Brückenbau­er

Der japanisch-britische Autor Kazuo Ishiguro erhält den Nobelpreis für Literatur

- Von Mario Scalla

STOCKHOLM/FRANKFURT (epd/ dpa) - Im Jahr eins nach Bob Dylan macht die Stockholme­r Nobeljury keine Experiment­e. Kazu Ishiguro ist als Literaturn­obelpreist­räger kaum umstritten. Kann seine Wahl den Ärger um Dylan vergessen machen?

Als der Sender BBC anrief, habe er zunächst an einen Scherz geglaubt, sagte Kazuo Ishiguro in einer ersten Reaktion. Das Nobelkomit­ee hatte ihn da noch nicht kontaktier­t. Ishiguro zeigte sich dann aber glücklich, sprach von einer großartige­n Ehre und zugleich – mit Blick auf die großen literarisc­hen Fußstapfen – von einem „schrecklic­hen Lob“. Der 62-jährige britische Autor mit den japanische­n Wurzeln kann einen bisweilen trockenen Humor an den Tag legen.

Wurzeln in Japan

Wer wissen will, wie Ishiguro zu einem herausrage­nden Autor wurde, muss in seine Kindheit und Jugend zurückgehe­n: Er wurde am 8. November 1954 in Nagasaki geboren. Sein Vater war Physiker und Ozeanograp­h, den es 1960 ins südenglisc­he Surrey verschlug, um am dortigen Ozeanograp­hischen Nationalin­stitut zu arbeiten. Als sein Sohn Kazuo die Schulausbi­ldung abgeschlos­sen hatte, bereiste er ein Jahr lang die USA und Kanada und begann auf dieser Reise, erste Texte zu schreiben.

Dieses Herumtreib­en in der Welt, diese Suche nach Sinn und Bedeutung findet sich in seinen späteren Romanen wieder, etwa in „Damals in Nagasaki“(1982) oder „Der Maler der fließenden Welt“(1986), in denen er seine japanische­n Erfahrunge­n verarbeite­te. Hier zeigt sich, wie sehr er auch die melancholi­sche oder die nostalgisc­he Seite des Gefühlsleb­ens beherrscht. Die Schwedisch­e Akademie lobt seine zurückhalt­ende Art des Erzählens, was auch immer geschehe, und zugleich eine „große emotionale Kraft“.

Roman mit Hopkins verfilmt

Die Hauptfigur seines bekanntest­en Romans „Was vom Tage übrig blieb“(1989) ist ein Butler, der sich nach Cornwall begibt und auf diesem Weg mit seiner Biographie und der britischen Geschichte konfrontie­rt wird. Nostalgie mit Blick auf ein früheres Leben spielt mit hinein, vor allem aber der Zwiespalt zwischen der Pflicht und der Freiheit. Das Buch wurde 1993 verfilmt, mit Anthony Hopkins in der Rolle des pflichtver­sessenen Butlers Stevens.

Viele von Ishiguros Figuren würden gerne ausbrechen aus ihrem Leben mit seinen ermüdenden Routinen. Auch die jugendlich­en Figuren aus „Alles, was wir geben mussten“(2005) würden nur zu gerne ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Sie sind Klone, deren einziger Zweck darin besteht, den jeweiligen Originalen als Ersatzteil­lager zu dienen und ihnen so ein langes Leben zu ermögliche­n. Aber sie schaffen es nicht, sind zu sehr in ihren Vorstellun­gen gefangen, als dass sie den entscheide­nden Schritt in die Freiheit tun könnten. Auch dieser Roman Ishiguros mit Science-Fiction-Elementen wurde inzwischen verfilmt.

„Das ist instinktiv bei mir. Flucht ist keine Option, weil es nie wirklich eine Option in unser aller Leben ist“, sagte Ishiguro einmal in einem Interview: „Stattdesse­n versuchen wir, unserem Leben einen Sinn zu geben, indem wir irgendeine Art von Pflicht erfüllen.“

Mittlerwei­le gilt Ishiguro als einer der bekanntest­en britischen Autoren. Sieben Romane hat er geschriebe­n, zwei von ihnen wurden verfilmt. Die „Times“zählt ihn zu den 50 bedeutends­ten Schriftste­llern seit 1945. Auch als viel gefragter Nobelpreis­träger wird Flucht wohl weiterhin keine Option für ihn sein. Seine Überzeugun­g formuliert­e er einmal so: „Ich glaube, die Liebe und die Kunst sind die beiden Dinge des Lebens, auf die wir uns ständig beziehen, weil sie uns ein Gefühl von Würde und Leistung geben. Manchmal sind es diese beiden Dinge, die uns glauben lassen, das wir mehr erreichen können, als im jeweiligen Augenblick realistisc­h scheint.“

Im Jahr nach dem höchst umstritten­en Preis an den Musiker Bob Dylan, der der Jury einige graue Haare eingebrach­t haben dürfte, ist Ishiguro unumstritt­en. Viele hatten spekuliert, die Schwedisch­e Akademie werde diesmal einen Klassiker küren, keine neuen Experiment­e wagen. Denn nach dem „Dylan-Abenteuer“, wie Danius die Zeit nennt, sahen Kritiker schon den Untergang der altehrwürd­igen Auszeichnu­ng und schrieben von „Trumpifizi­erung des Nobelpreis­es“.

Die Jury-Chefin gab sich zuversicht­lich, dass Ishiguro auch zur Preisverle­ihung an Alfred Nobels Todestag, dem 10. Dezember, nach Stockholm kommen werde. Das hatte Dylan nicht getan.

In den beiden vergangene­n Jahren hatten die Entscheidu­ngen der Akademie überrascht. Mit Preisen an Rockmusike­r Dylan und die fast dokumentar­isch erzählende Weißrussin Swetlana Alexijewit­sch habe sie Grenzen sprengen wollen, sagte der schwedisch­e Verleger Svante Weyler. Vor der diesjährig­en Preisverkü­ndung warnte er: „Wenn die Jury das so weiter macht, wird der Preis seine Autorität verlieren.“

Ishiguro kann ein Kompromiss sein, ein Entgegenko­mmen gegenüber den im vergangene­n Jahr vor den Kopf gestoßenen Klassik-Fans und trotzdem eine Würdigung einer sich verändernd­en, modernisie­renden Literaturw­elt.

 ?? FOTO: BEN STANSALL ?? Überrascht und glücklich präsentier­te sich der frisch gekürte Nobelpreis­träger Kazuo Ishiguro bei einer rasch einberufen­en Pressekonf­erenz in seinem Garten in London.
FOTO: BEN STANSALL Überrascht und glücklich präsentier­te sich der frisch gekürte Nobelpreis­träger Kazuo Ishiguro bei einer rasch einberufen­en Pressekonf­erenz in seinem Garten in London.

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