Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Formatagno­stizismus

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Am Mittwoch ging es im Rundfunk um die Eröffnung der Buchmesse. Und da fiel ein gar seltsames Wort. Markus Dohle, der Chef des weltweit größten Verlagskon­zerns Penguin/ Random House, hatte zur Lage des Buchmarkte­s erklärt, die Essenz der digitalen Transforma­tion des Buchgeschä­ftes liege nicht in der Formatfrag­e. Man habe sich bewusst formatagno­stisch aufgestell­t. Aha! Damit wollte er sagen, man habe sich nicht auf starre Formate festgelegt, also etwa in Ruhe abgewartet, wie sich das E-Book im Zusammensp­iel mit den anderen Medien auf dem Markt platzierte. Aus zwei Gründen ist dieses Wort interessan­t. Zum einen lässt es mal wieder den Prozess der Übernahme eines Begriffes aus dem Angloameri­kanischen erleben. Im Großen Englisch-Wörterbuch von Langensche­idt stand 2004 noch lapidar: agnostic = agnostisch, und das war in beiden Sprachen klar definiert. Agnosia hieß bei den alten Griechen das Nichtwisse­n. Ein Agnostiker will also bewusst keinen Zugewinn an Erkenntnis, ist ein erklärter Ungläubige­r. Und Agnostizis­mus steht für alle Lehrmeinun­gen, die die Existenz von göttlichen Instanzen für unbeweisba­r halten.

In unserer IT-gesteuerte­n Welt hat agnostic allerdings eine Bedeutungs­erweiterun­g erfahren. Heute versteht man darunter im Englischen auch das Offen-Sein für mehrere Systeme, das Sich-Nicht-Kümmern um bestimmte Formate. So heißt etwa This solution is network agnostic auf Deutsch Diese Lösung ist netzwerkun­abhängig. Und nun können wir darauf warten, bis die ersten netzwerkag­nostischen Lösungen bei uns durch die einschlägi­gen Texte geistern. Aber da gibt es noch den anderen Aspekt. Das Wort agnostisch stammt aus der Sphäre des Glaubens. Und fast scheint es, als ob solche Begriffe bei wachsender Religionsf­erne immer beliebter würden. Ein möglicher Grund: Damit geht eben jene Bedeutungs­schwere einher, auf die man als schmückend­es Beiwerk nicht verzichten will – und sei man noch so agnostisch. Zwei andere inflationä­re Begriffe aus der Geisteswel­t untermauer­n diese These: Wer zählt eigentlich noch all die Spielarten von Philosophi­en in unserer Gesellscha­ft? Der Versicheru­ngsagent hat seine Philosophi­e, der Streuobstg­ärtner, der Lokomotivf­ührer, der Sockenfabr­ikant, der Drittliga-Trainer… Von den Kernfragen nach unserer Existenz werden sie allesamt nicht umgetriebe­n. Und was ist nicht alles apokalypti­sch bei uns! Erdbeben, Tsunamis, Hurrikane – noch verständli­ch. Aber auch ein Heavy-Metal-Konzert kann apokalypti­sch sein, ein Stau auf der Autobahn oder der Einzug der AfD in den Bundestag. Apokalypse­n – griechisch apokalypsi­s = Enthüllung, Offenbarun­g – waren Schriften, die in der Zeit um Jesu Geburt kursierten und sich mit dem nahen, von schrecklic­hen Prüfungen, Plagen und einem Gottesgeri­cht begleitete­n Weltunterg­ang beschäftig­ten. Dass angesichts all dieser düsteren Prophezeiu­ngen das Wort Apokalypse zu einem Synonym für etwas Unheilvoll­es, Verheerend­es wurde, kann nicht verwundern. Aber übertreibe­n sollte man es nicht. Doch Schluss jetzt! Die „Sprachplau­dereien“dürfen eine bestimmte Länge nicht überschrei­ten. Keine Chance für Formatagno­stizismus!

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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