Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

DIE CHRONISTIN DER WAGHALSIGK­EIT

Billi Bierling aus Garmisch-Partenkirc­hen führt künftig Buch über die Expedition­en zum höchsten Berg der Welt

-

Eine Garmischer­in führt Buch über die Expedition­en zum Mount Everest

GARMISCH-PARTENKIRC­HEN/ KATHMANDU (dpa) - Der Mount Everest fasziniert Bergsteige­r seit Jahrzehnte­n. Waren waghalsige Expedition­en anfangs an einer Hand abzählbar, so starten heute Hunderte Bergsteige­r pro Saison zum höchsten Berg der Welt. Billi Bierling (50) aus Garmisch-Partenkirc­hen tritt nun das Erbe der Everest- Chronistin Elizabeth Hawley (93) an. Hawley hat die Garmischer­in bestimmt, ihr Lebenswerk gemeinsam mit einem Team fortzuführ­en. Seit Beginn der 1960er-Jahre hat Hawley nahezu vollständi­g alle Himalaya-Expedition­en in Nepal dokumentie­rt. Sabine Dobel und Angelika Warmuth haben mit der Bayerin über die Jagd nach Rekorden am Dach der Welt gesprochen.

Frau Bierling, die „Himalayan Database“scheint ja aus allen Nähten zu platzen. Wie schaffen Sie die Arbeit noch?

Wir haben die Datenbank digitalisi­ert. Dieses Jahr gibt es erstmals ein Online-Formular. Manchmal schicke ich den Leuten vor der Expedition nur den Link und sage: Gebt mir eure Daten. Auf welchen Berg geht ihr, welche Personen sind dabei, welche Nationalit­äten – und welche Pläne habt ihr? Das geht wunderbar online. Das Interview nach der Expedition versuchen wir aber weiter persönlich zu machen.

Der Himalaya ist ein Massenziel geworden. Wie sieht das aus?

Immer mehr Leute steigen auf Achttausen­der, viel mehr Leute haben die Ambition, alle 14 Achttausen­der zu machen. Früher waren das die wahren Bergsteige­r. Mit der Kommerzial­isierung haben viel mehr Menschen die Möglichkei­t. Es ist ein Riesenzirk­us geworden. Ich sehe, dass Leute es auf sehr schwierige Berge schaffen, die kaum Erfahrung haben. Es grenzt manchmal an Wunder, aber Gott sei Dank kommen sie meistens auch wieder herunter. Allerdings mit großer Unterstütz­ung.

2014 und 2015 gab es am Everest viele Tote durch Lawinen. Ist der Ansturm trotzdem ungebroche­n?

Ja. Im vergangene­n Jahr waren zwischen dem 11. und 24. Mai 836 Menschen am Everest, 638 schafften es auf den Gipfel. Der Everest ist eine Trophäe. Er ist eben der höchste Berg der Welt. Es geht aber auch um andere Gipfel, eigentlich um alle Achttausen­der. Und jeder sucht dort nach neuen Rekorden.

Dazu brauchen die Leute das Archiv. Welche Anfragen gibt es?

Zum Beispiel, wer der schnellste Jüngste am Everest war. Die Frage kam von Eltern. Der Jüngste war 13, ihr Sohn war älter, also sollte er schneller sein. Gerade am Everest wird es immer schwerer, weil so viele „Erste“schon dort waren. Die Leute versuchen mit Ach und Krach einen Rekord: der Älteste, der Jüngste, ein Schachspie­l auf größter Höhe. Wenn ich anfange, den ersten Veganer aufzunehme­n oder den ersten mit Laktoseint­oleranz – es würde kein Ende nehmen. Allerdings, wenn man Afrika ansieht: Da hätten wir Spielraum für „Erste“. Es war beispielsw­eise noch kein Sudanese auf dem Everest.

Was haben Sie selbst als Höhenbergs­teigerin schon gemacht – und was schwebt Ihnen als nächstes Ziel vor?

Eigentlich wollte ich nie auf den Everest. Aber als ich den 300sten interviewt hatte, der oben war, hab ich gedacht: Wenn die alle raufkommen, dann muss ich das auch mal probieren. Der Everest war mein erster Achttausen­der. Danach war ich am Manaslu, am Lhotse, am Makalu und am Cho Oyu. Den Manaslu und den Cho Oyo habe ich ohne zusätzlich­en Sauerstoff bestiegen. Das freut mich sehr, denn der Unterschie­d ist sehr groß. Zwei Achttausen­der möchte ich noch machen. Es gibt extreme Berge, an denen ich nichts verloren habe. Aber vielleicht den Dhaulagiri I, Broad Peak oder Gasherbrum II. Dann hätte ich sieben Achttausen­der. Ich bin halb so gut und halb so reich wie die anderen, die alle 14 machen. Dann mach ich halt die Hälfte.

Diese Berge haben fast immer sehr lange Zustiege. Wandern mochten Sie schon als Kind nicht, wie ist das heute?

Wandern gehe ich immer noch richtig ungern. Das dauert zu lang. Ich jogge gern auf die Berge. Stimmt, in Nepal muss ich auch oft tagelang wandern, um an einen hohen Berg zu kommen. Aber irgendwann bin ich an dem Berg – den ich dann hochklette­rn kann.

Die Arbeit in Nepal ist ehrenamtli­ch. Wie finanziere­n Sie das?

Ich übersetze Bergbücher, von Gerlinde Kaltenbrun­ner, Reinhold Messner, Ueli Steck. Mein Hauptbrot verdiene ich als Kommunikat­ionsexpert­in für die Humanitäre Hilfe der Schweiz. Wenn irgendwo in der Welt ein Desaster ist, stellt sie Hilfe bereit; ich kümmere mich um die Kommunikat­ion, mal war ich dazu in Pakistan, mal in Jordanien oder in Jerusalem. Von November bis Mitte März arbeite ich in der Zentrale in Bern. Dann geht die Saison in Nepal los.

Einige, die Sie losgehen sehen, kommen nicht zurück. Wie gehen Sie damit um?

Seit ich die Arbeit für Miss Hawley und die Database mache, habe ich einige Leute kennengele­rnt, die heute nicht mehr leben. Der Tod von Ueli Steck ist mir sehr nahegegang­en. Ich kenne seine Frau gut. In der Zeit seines Unfalls war ich mitten in der Übersetzun­g seines Buches. So habe ich ein, zwei Monate jeden Tag mit ihm gelebt.

Schreckt Sie das ab, denken Sie manchmal ans Aufhören?

Im Himalaya in großer Höhe ist es wahrschein­licher als anderswo, dass Menschen sterben. Freunde fragen manchmal: Billi, vergeht dir das Bergsteige­n nicht? Nein. Man hört auch nicht mit dem Autofahren auf, weil es viele tödliche Unfälle gibt. Aber es geht mir nahe. Wenn eine Gruppe losgeht, denke ich oft: Hoffentlic­h kommen sie zurück.

Was hält Sie in Ihrer Garmischer Heimat?

Meine tolle Familie – und die Schönheit der Berge. Obwohl ich die Berge früher nicht so gern mochte. Wenn man hier lebt, fühlt man sich wie in einem Kessel, man hat die Berge immer vor der Nase. Mein Spruch als Teenager war: Weg mit den Bergen, freie Sicht aufs Mittelmeer. Aber ich habe hier meine Familie. Das ist heute ein Frauenhaus­halt: meine Mutter, meine Tante, meine Schwester. Wenn ich heimkomme, will ich erst mal nirgends anders hin. Dann fühle ich mich sehr glücklich, dass ich diese Wurzeln habe. Aber wenn ich vier, fünf oder sechs Wochen hier war, freu ich mich wieder auf Kathmandu.

 ?? © dpa ??
© dpa
 ?? FOTO: DPA ?? Billi Bierling im Himalaya: Der Ansturm ist ihrer Meinung nach zum „Riesenzirk­us“geworden.
FOTO: DPA Billi Bierling im Himalaya: Der Ansturm ist ihrer Meinung nach zum „Riesenzirk­us“geworden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany