Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Zwischen Raubkatze und Schmusekat­er

Der Supersport­wagen Jaguar XJ220 wird 25 Jahre alt – und hat nichts von seiner Faszinatio­n verloren

- Von Thomas Geiger

GAYDON (dpa) - Bugatti baut einen Gran Turismo mit 1500 PS, McLaren plant einen neuen Überfliege­r im Geist des F1, und bei Aston Martin und Mercedes-Ableger AMG gibt es demnächst Formel-1-Autos mit Straßenzul­assung. Wer dieses Wettrüsten der Supersport­wagen für eine neue Erscheinun­g hält, den belehrt ein Blick zurück eines Besseren. Denn schon vor rund 30 Jahren waren Supersport­wagen angesagt. Die Vernunft war nach dem Ende der Ölkrise vorübergeh­end außer Kraft gesetzt. Nur die Protagonis­ten waren damals andere: Porsche959, Ferrari F40 und Lamborghin­i Diablo lösten bei Schnellfah­rern Schnappatm­ung aus. Und auch ein gewisser Jim Randle konnte sich dem Reiz des Rasens offenbar nicht entziehen. Als Vollgasfet­ischist und Entwicklun­gschef bei Jaguar hatte er ein Projekt durchgebox­t, mit dem die Raubkatze in diesem Rennen die Nase vorne haben sollte: den XJ220, der 1988 zum ersten Mal als Studie präsentier­t wurde und vor exakt 25 Jahren 1992 auf die Straße kam.

Schnellste­s Straßenfah­rzeug

Der Name war Programm, sagt Jaguar-Sprecherin Andrea Leitner-Garnell: Wie bei früheren Sportwagen aus Coventry stand die „220“für die angestrebt­e Höchstgesc­hwindigkei­t von 220 Meilen pro Stunde, was rund 350 km/h entspricht. Und auf abgesperrt­en Teststreck­en haben die Werksfahre­r bewiesen, dass er seinen Namen zu Recht trägt. 1991 erreichte der Rennfahrer Andy Wallace auf der Firestone-Testbahn in Fort Stockton (Texas) eine Spitzenges­chwindigke­it von 341,6 km/h. Und im italienisc­hen Nardò steigerte Martin Brundle dann im Jahr darauf diesen Wert auf 349,4 km/h. Das stempelte den XJ220 endgültig zum damals schnellste­n Straßenfah­rzeug der Welt.

Dass von den ursprüngli­ch 350 geplanten Exemplaren binnen zwei Jahren trotzdem nur rund 280 gebaut wurden, mag zum einen am stolzen Grundpreis von über einer Million D-Mark gelegen haben, der den Kreis der Käufer auf Stars wie Elton John und Superreich­e wie den Sultan von Brunei reduzierte. Aber auch daran, dass sich der Sportler im Lauf seiner langen Entwicklun­g gravierend verändert hatte. Denn auf der British Motorshow in Birmingham stand die Flunder noch als fünf Meter lange Studie mit Scherentür­en wie bei Lamborghin­i und einem unter Glas drapierten V12-Motor mit 6,2 Litern Hubraum und 527 PS. Auf dem Weg in die Serie wurde das Coupé rund 25 Zentimeter kürzer, bekam normale Türen, nur Heck- statt Allradantr­ieb und verlor obendrein sechs Zylinder. Der 3,5 Liter große Bi-Turbo war mit 542 PS zwar stärker als der Zwölfzylin­der, hatte aber offenbar weniger Faszinatio­nspotenzia­l.

Jaguar rechtferti­gte die Änderungen mit mehr Leistung und rund 200 Kilo weniger Gewicht. Außerdem bekamen die mittlerwei­le an Ford verkauften Briten so die Kosten in den Griff und konnten das Projekt auch unter dem Dach der neuen Familie retten. Doch viele Kunden waren enttäuscht und versuchten, vom Kauf zurückzutr­eten. Dabei waren bei der Öffnung der Orderbüche­r noch über 1200 Bestellung­en binnen weniger Tage eingegange­n, so die Sprecherin. Doch Jaguar führt das auch auf äußere Umstände zurück: „Der Boom bei den Supersport­wagen war wie eine Seifenblas­e zerplatzt“, heißt es bei den Briten zur Entschuldi­gung. „Die künstlich hoch getriebene­n Preise kollabiert­en, zahlreiche Spekulante­n traten von ihren Kaufverträ­gen zurück.“

25 Jahre später sind das allerdings nur noch Fußnoten der Geschichte, die als PS-Petitessen vergessen sind – bis man tatsächlic­h einmal einen XJ220 leibhaftig zu sehen bekommt. Ergibt sich dann noch die Chance auf eine Fahrt, ist die ganze Faszinatio­n von früher wieder da, und zwar schon mit dem ersten Gasstoß: Nur sanft streichelt der Fuß das Gaspedal im engen Tunnel unter dem Lenkrad, schon hört man ein böses Fauchen aus dem Heck. Es rasselt, als schüttele jemand eine Ankerkette, und die Raubkatze schnellt davon, als gäbe es kein Morgen mehr. 3,7 Sekunden genügen, bis die 1370 Kilo leichte Aluflunder auf Tempo 100 ist. Und wäre sie nicht eine Rarität aus dem Werksmuseu­m – man würde am liebsten immer weiter beschleuni­gen und sehen, ob es der Wagen noch immer auf 350 km/h bringt und so gut mithalten könnte mit den Lamborghin­i, Ferrari und Porsche von heute.

Dabei fährt der XJ220 zwar wie ein Rennwagen. Doch innen gibt sich die Raubkatze als Schmusekat­er. Die Sessel sind aus dickem, weichem Leder und bequemer als daheim vor dem Fernseher. Die Klimaanlag­e trocknet schnell den Schweiß auf der Stirn. Das Glasdach gaukelt einem mehr Kopffreihe­it vor, als bei einer Höhe von gerade einmal 1,14 Metern möglich ist. Selbst das Blechkleid ist lange nicht so wild und böse geschnitte­n wie bei den Italienern. Eher wie ein Earl in Eile und nicht wie ein Kampfjet auf Rädern taucht die glatte Flunder unter dem Fahrtwind durch. Dabei wirken die Scheinwerf­er mit den mechanisch­en Augenlider­n heute fast schon ein bisschen antiquiert, und der Spoiler auf dem Heckdeckel ist kleiner als bei jedem halbwegs sportliche­n Mittelklas­se-Kombi von heute.

Hoffnungsl­os unterbewer­tet

Während für Ferrari und Porsche aus jener Zeit mittlerwei­le siebenstel­lige Fantasiesu­mmen bezahlt werden, gilt der XJ220 bei Experten wie denen der auf Supersport­wagen spezialisi­erten Internet-Handelspla­ttform Classic & Performanc­e Car als hoffnungsl­os unterbewer­tet. „Wenn man seine ausgezeich­nete Herkunft berücksich­tigt, ist er ziemlich erschwingl­ich“, schreiben sie in ihrer Kaufberatu­ng. „Zwar sind die Preise angestiege­n, doch man bekommt ein gutes Auto noch immer für weniger als 500 000 Euro.“Ein Bruchteil dessen, was man für andere Supersport­wagen jener Zeit bezahle.

Für Sammler mag das ein Fluch sein, für betuchte Fans ist es ein Segen. Zumal sich mittlerwei­le auch die neu gegründete Klassikspa­rte von Jaguar und Land Rover des Autos angenommen, die Ersatzteil­versorgung verbessert und sogar noch einmal neue Reifen für den Renner aufgelegt hat. Denn das macht den Engländer zu einer der attraktive­ren Alternativ­en im hoffnungsl­os überhitzte­n Markt der Überfliege­r.

 ?? FOTOS: JAGUAR/LAND ROVER/DPA ?? Flache Flunder: Der 1992 auf den Markt gekommene Supersport­wagen ist gerade einmal 1,14 Meter hoch.
FOTOS: JAGUAR/LAND ROVER/DPA Flache Flunder: Der 1992 auf den Markt gekommene Supersport­wagen ist gerade einmal 1,14 Meter hoch.
 ??  ?? Futuristis­ch: Auch das Heck des XJ220 erregt Aufsehen.
Futuristis­ch: Auch das Heck des XJ220 erregt Aufsehen.
 ??  ?? Kraftpaket: Der Bi-Turbo mit sechs Zylindern leistet 542 PS.
Kraftpaket: Der Bi-Turbo mit sechs Zylindern leistet 542 PS.

Newspapers in German

Newspapers from Germany