Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Geschichte ist keine Einbahnstraße“
Christopher Clark führt in seiner „Europa-Saga“fürs ZDF durch die Epochen
MAINZ - Europa bewegt sich nach Einschätzung des Historikers Christopher Clark ständig zwischen Einheit und Konkurrenz hin und her, ist Schauplatz schlimmster Kriege, aber auch Ursprungsort von Vernunft, Friedensordnungen und Aufklärung. Clark hat 2014 in seiner „Deutschland-Saga“bereits deutsche Geschichte von der Steinzeit bis in die Gegenwart erzählt. Nun startet er im ZDF mit seiner „Europa-Saga“, in der er zentrale Schauplätze europäischer Geschichte besucht. Christoph Arens von der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) hat sich mit dem australischen Historiker über seine Ideen zu Europa unterhalten.
Gibt es so etwas wie einen roten Faden, der sich durch die europäische Geschichte zieht?
Europas Werdegang ist keineswegs eine Einbahnstraße von den alten Griechen bis zur EU. Charakteristisch sind vielmehr die zahllosen Umbrüche und Diskontinuitäten: Der Kontinent schwingt zwischen Einheit und Konkurrenz hin und her, ist Schauplatz schlimmster Kriege, aber auch Ursprungsort von Vernunft, Friedensordnungen und Aufklärung. In unserer Fernsehserie stellen wir die italienische Stadt Siena mit ihrem jährlichen Pferdewettkampf als Sinnbild für Europa vor: Es herrscht eine teilweise gnadenlose Konkurrenz, es gibt Bestechung und manchmal auch Gewalt. Und dennoch gibt es einen unglaublichen Zusammenhalt in der Stadt. Das ist Europa im Kleinen.
Bis weit ins 17. Jahrhundert sah es so aus, als ob China die weitaus fortschrittlichste und kreativste Region der Welt sei. Warum hat Europa dann doch das Rennen gemacht?
Bis vor Kurzem war die These vorherrschend, dass China als Riesenreich mit nur einem Machtzentrum zu selbstgenügsam war. Ich glaube, das ist zu kurz gedacht. Richtig ist, dass in Europa durch die unterschiedlichen Staaten und Herrschaftsformen eine riesige Konkurrenz herrschte. Das führte dann zu einem Wettlauf, etwa um Eroberungen in Afrika, Asien und Amerika. Große Energien wurden freigesetzt. Es gibt viele Faktoren, die zu einer neuen Dynamik führten, so dass Europa China überrunden konnte. Diese Entwicklung war aber keineswegs zwangsläufig.
Welche Bedeutung schreiben Sie dem Christentum in Europa zu?
Es ist absolut zentral. Die kirchliche Verwaltungslogik findet sich noch heute in unserem Rechtssystem. Europas Stadtpläne zeigen die Bedeutung der Kirchen. Und die wichtigsten und ältesten Städte haben sich aus den mittelalterlichen DiözesanSitzen entwickelt.
Und der Islam, gehört er zu Europa?
Man muss genau hinschauen, worauf diese Frage zielt. Wenn sie ausdrücken soll, dass Muslime kein Recht haben, sich Europäer zu nennen, dann ist sie unakzeptabel. Moscheen gehörten in Ländern wie Spanien oder auf dem Balkan schon im Mittelalter genauso zum Stadtbild wie Kirchen oder Synagogen. Der Islam ist ein prägender Bestandteil der europäischen Geschichte und Kultur. Gerade in Spanien hat das Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen im Mittelalter zu einer Epoche großer Kreativität geführt.
In den vergangenen Jahren war gelegentlich die These zu hören, man könne die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung in Europa durch den Gegensatz zwischen protestantisch geprägtem Norden und katholisch geprägtem Süden erklären. Ist das ein taugliches Erklärungsmodell?
Das greift viel zu kurz und ist eindimensional. Von diesen pauschalen Zuschreibungen – arbeitsscheue Katholiken, die das Leben genießen, auf der einen, und arbeitsame und moralstrenge Protestanten auf der anderen Seite – halte ich gar nichts. Ihren Ursprung haben sie bei Max Webers Untersuchung über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Seine Thesen sind längst überholt, und man muss wissen, dass Weber selber ein protestantischer Kulturkämpfer war. Es gibt viele Gründe für die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung in Europa. Außerdem ist schon längst vieles in Bewegung geraten: Die südlichen „katholischen“Länder holen ja wieder auf.
Der Historiker Gregor Schöllgen hat gerade ein Buch veröffentlicht, in dem er eine Neuerfindung von EU und Nato fordert. Sie seien Organisationsformen aus der Zeit des Kalten Krieges und taugten nicht mehr für eine globalisierte Welt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Richtig ist, dass 1989/1990 ein Wandel von welthistorischer Größe stattgefunden hat. Die Staatenordnung wurde völlig neu gegründet; es entstand auch ein Deutschland in Grenzen, die es vorher noch nie gegeben hat. Die Politik hat angesichts der Dramatik der Entwicklung extrem konservativ reagiert, nach dem Motto: keine Experimente. Die EU sollte so bleiben wie sie ist, die Nato auch. Mittlerweile wird deutlich, dass ein Reformstau entstanden ist, der behoben werden muss.
Das ZDF zeigt die Sendungen mit Christopher Clark am Sonntag, 22. Oktober: die „DeutschlandSaga“um 10.45 Uhr, die „EuropaSaga“um 19.30 Uhr.