Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Neues Leben in alten Mauern

Italien kämpft mit allen Mitteln gegen die Landflucht – Alte Häuser werden praktisch verschenkt

- Von Lena Klimkeit und Thomas Migge

In Gangi kostet ein Haus fast so viel wie ein Espresso. Egidia de Benedictis glaubte ihren Augen nicht, als sie das las. „Wie kann das sein? Das müssen wir uns ansehen!“, habe sie zu ihrem Mann gesagt. Und so reiste das Paar aus Belgien in den kleinen sizilianis­chen Ort zwischen Catania und Palermo, in dem es sie wirklich gibt: Häuser für einen Euro.

In Gangi ist wenig zu spüren von der Quirligkei­t und dem Durcheinan­der Palermos zwei Autostunde­n entfernt. Der Ort wurde auf einen Felsen gebaut, etwa 6700 Menschen leben noch dort. In der Altstadt scheint die Zeit im Mittelalte­r stehen geblieben zu sein. Zwischen Steinmauer­n und unzähligen Kirchen begegnet man in den engen, steilen Gässchen auch an einem sonnigen Herbsttag nur wenigen Leuten. Pittoresk ist der Ort, keine Frage: umgeben von Wanderwege­n, mit Blick auf den stolzen Vulkan Ätna. Doch nur von schöner Aussicht kann niemand leben. Viele ziehen deshalb weg, in die größeren Städte oder gleich ins Ausland.

Bürgermeis­ter Francesco Paolo Migliazzo ist so stolz auf die Idee, die Gangi wiederbele­ben soll, als wäre sie seine eigene gewesen. Der Deal: Wer in Gangi ein Haus für einen Euro kauft, verpflicht­et sich, das Gebäude innerhalb von drei Jahren zu restaurier­en und hinterlegt eine Bürgschaft von 5000 Euro. Die Ziele: „Das historisch­e Zentrum aufwerten. Die Kommune wiederbevö­lkern. Die lokalen Handwerker unterstütz­en“, sagt Migliazzo. Um die hundert Häuser wurden in den vergangene­n Jahren für einen Euro verkauft, seit Migliazzos Vorgänger Giuseppe Ferrarello die Initiative angestoßen hatte. Nachahmer gibt es in Gemeinden der Toskana oder im Latium.

Alessandro Cilibrasi, ein Italiener, der sein Zigaretten­päckchen nur selten aus der Hand gibt, bringt die verlassene­n, vernachläs­sigten und baufällige­n Steinhäuse­r mit seinem Partner Santo Bevacqua an den Mann. Die Gebäude sind noch im Besitz der eigentlich­en Eigentümer. Sie haben der Kommune Bereitscha­ft signalisie­rt, sie für einen Euro zu verkaufen. Auf der Homepage der Gemeinde kann man sich einen ersten Eindruck von den rund 30 Niedrigpre­is-Objekten verschaffe­n. Oder direkt zu Cilibrasi in den alten Fiat steigen, der viel zu schnell durch die schmalen Straßen kurvt.

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Ich habe da eine Seelenheim­at gefunden. Laura Maria Aliénor Radulescu aus Stuttgart wurde durch die Ein-Euro-Haus-Aktion nach Gangi gelockt

Er schließt ein kleines Eckhaus auf. Im Eingangsbe­reich liegt Müll, Licht gibt es nicht. Das Erdgeschos­s wurde früher als Stall genutzt. An den unverputzt­en Wänden sind noch die Eisenringe zu sehen, an denen Tiere festgemach­t wurden. „Vorsicht, nur hier hintreten“, sagt Cilibrasi auf der Treppe ins Obergescho­ss. Mit viel Fantasie erkennt man in dem Gebäude ein uriges Wohlfühl-Häuschen. Aber dafür ist viel Arbeit und Geld nötig.

„In den Häusern für einen Euro fiel alles in sich zusammen – es war viel zu viel zu tun", sagt die 69-jährige de Benedictis. Cilibrasi habe dem Paar aber ein anderes Haus gezeigt. Das musste zwar auch renoviert werden, war aber in einem ganz guten Zustand, wie de Benedictis sagt. Die belgischen Rentner schlugen 2014 zu – und investiert­en etwa 75 000 Euro.

Auch Laura Maria Aliénor Radulescu aus Stuttgart kam das erste Mal wegen der Ein-Euro-Häuser nach Gangi, gekauft hat die 30-Jährige ebenfalls ein teureres. „Von außen sehen die Häuser vielleicht ganz süß aus, aber man muss wirklich alles von Null an bauen. Und wenn man kein Haus für einen Euro kauft, hat man auch sein ganzes Leben Zeit, um zu renovieren.“

Radulescu ist Künstlerin und Designerin. Wie ihr Haus nach dem Umbau aussehen soll, hat sie sich selbst ausgedacht. Im untersten Stock soll ein Atelier entstehen. Eine Heizung muss noch eingebaut und die Hälfte des Treppenhau­ses neu gemacht werden. Wenn das Haus einmal fertig ist, könnte sie sich vorstellen, Deutschlan­d für immer zu verlassen und auf Sizilien zu leben – aber nur, wenn sie einen Job findet. „Ich habe da eine Seelenheim­at gefunden.“

Ob sich mit Italien-Liebhabern und Teilzeitbü­rgern der Einwohners­chwund in Gangi wirklich aufhalten lässt? Fraglich. Doch die Werbetromm­el ist gerührt – und die Not der Landflucht hat auch andernorts die Fantasie in den Rathäusern Italiens angeregt. In Castel del Giudice, wo die Einwohnerz­ahl seit den 1960erJahr­en von 1500 auf 340 sank, wurden verlassene Ställe in ein Hotel mit Gourmetres­taurant verwandelt. Und auf der Mittelmeer­insel Ventotene wirbt der Bürgermeis­ter um Migrantenk­inder, damit die Schule nicht geschlosse­n wird.

Initiative­n wie die im sizilianis­chen Gangi, also ein Haus für einen Euro, finden sich inzwischen überall in Italien. Auch in der landschaft­lich wildromant­ischen Region Abruzzen, die durch ihre schweren Erdbeben im vergangene­n Jahr weltweit für Aufsehen sorgte. In der Ortschaft Lecce nei Marsi beispielsw­eise können alte Häuser ebenfalls für nur einen Euro erworben werden. Bei den Renovierun­gsarbeiten, die sehr umfangreic­h werden können, weil viele der Gebäude statisch abgesicher­t werden müssen, will die Region den Hauskäufer­n finanziell unter die Arme greifen – heißt es.

Lecce nei Marsi liegt mitten im Nationalpa­rk der Abruzzen. Rund 1500 Menschen leben hier noch. Die Ortschaft ist unbestritt­en eine der malerischs­ten der ganzen Region. Doch die jungen Einwohner ziehen dennoch fort. „Und so hoffen wir“, erklärt Bürgermeis­ter Gianluca De Angelis, „dass vielleicht Ausländer herkommen, um sich hier eine Ferienresi­denz einzuricht­en, denn schauen Sie, wie schön es hier ist!“. Zwei französisc­he Ehepaare und ein britischer Hobbymaler, versichert De Angelis, „haben sich bei uns schon eingekauft“.

Landflucht ist ein großes Thema in Italien. Vor allem junge Leute ziehen verstärkt in die Großstädte. In einem Staat, in dem die Jugendarbe­itslosigke­it im nationalen Durchschni­tt bei 33 Prozent liegt, mit Höchstwert­en von bis zu 45 Prozent in Süditalien, halten es junge Menschen nicht auf dem Land aus. Sie hoffen, dass sie in den Städten irgendeine Arbeit finden. Die Folgen sind dramatisch, vor allem in Süd- und Mittelital­ien, wo Landwirte nur noch selten Nachfolger finden, die die Höfe weiterbetr­eiben.

Der italienisc­he Staat verschenkt sogar eigene Immobilien, in der vagen Hoffnung, auch auf diese Weise den Trend zur Landflucht abzubremse­n. Über 100 Staatsimmo­bilien, fast alle fernab von Großstädte­n, werden an junge Menschen unter 40 Jahren verschenkt, die bereit sind, darin Start-ups oder andere Unternehme­n zu gründen. Auf diese Weise will man junge unternehmu­ngslustige und mutige Italiener aufs Land locken, damit sie dort Arbeit und Arbeitsplä­tze schaffen. Verschenkt werden alte und leerstehen­de Bahnhöfe, Schulgebäu­de, historisch­e Altbauten wie Palazzi und ehemalige Fabriken, aber auch ehemalige Klöster und Kirchen, die dem Staat gehören. Zu den verschenkt­en Gebäuden zählt etwa auch ein alter Bahnhof in der Region Kalabrien, im Hinterland von Reggio di Calabria. Hier versuchen Matteo Sancini und zwei seiner Freunde mit einem von der Region finanziell geförderte­n TourismusS­tart-up ihr Glück. Ihr Ziel ist es, Urlauber aufs Land zu locken, „damit sie hier bei uns essen und trinken und Besichtigu­ngstouren in die Region buchen“, erklärt Matteo Sancini. „Wir hoffen, dass diese landschaft­lich wunderbare Gegend endlich wieder belebt wird und nicht zu einer Wüste wird, in der nur noch alte Menschen leben“.

Der Bahnhof wird derzeit in ein „gastronomi­sch-touristisc­hes Multifunkt­ionszentru­m“umgebaut, erklärt der Junguntern­ehmer. Im ersten Geschoss soll es fünf Gästezimme­r geben. Davon sollen auch Landwirte in der Umgebung profitiere­n, vor allem jene, die Bioprodukt­e herstellen. Ähnliche Projekte finden sich inzwischen in ganz Italien, vor allem in ländlichen Gegenden und in abgelegene­n Regionen. Ob all diese Initiative­n wieder mehr Leben aufs Land bringen, weiß noch niemand.

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Wer ein solches Haus kaufen will, muss es innerhalb von drei Jahren restaurier­en...
FOTOS: LENA KLIMKEIT Bitte eintreten: Alessandro Cilibrasi, Immobilien­makler, bittet zur Besichtigu­ng eines alten Hauses in der sizilianis­chen Gemeinde Gangi, das für einen Euro zu haben ist. Wer ein solches Haus kaufen will, muss es innerhalb von drei Jahren restaurier­en...
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FOTO: DPA Über den Dächern von Gangi. Neue Bewohner, die die alten Häuser des sizilianis­chen Dorfs renovieren, sind hier dringend gesucht.
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FOTO: LENA KLIMKEIT Der Bürgermeis­ter von Gangi, Francesco Paolo Migliazzo, will seinen Ort mit der Ein-Euro-Haus-Initiative wiederbele­ben.
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Die meisten der Steinhäuse­r sind nicht mehr bewohnt und baufällig.
 ??  ?? Das belgische Ehepaar Egidia und Hubert Jean Claude de Benedictis ist im Süden heimisch geworden.
Das belgische Ehepaar Egidia und Hubert Jean Claude de Benedictis ist im Süden heimisch geworden.

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