Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Das kleine Krabbeln
Treten Läuse in Schulen oder Kindergärten auf, herrscht oft helle Aufregung. Bei richtigem Handeln braucht es aber nicht groß zu jucken
RAVENSBURG - „Sie wissen schon, dass Sie das Mittel gut auf dem Kopf verteilen müssen, oder?“Eine Stimme wie ein Pistolenknall. „Ja“, sagt der angerufene Vater einer neunund einer siebenjährigen Tochter am Telefon. „Haben Sie so ein Mittel eigentlich immer zu Hause?“Bohrendes Fragen der Mitarbeiterin vom Gesundheitsamt. „Ja, seit dem ersten Mal immer.“Der Atem stockt. „Was? Sie hatten schon mal Läuse im Haus?“, in der Behördenstimme schwingt ein hysterischer Beiklang mit. „Ja, sagte ich doch gerade.“„Und auch sonst sollten Sie immer mal mit dem feinen Läusekamm durchkämmen. Auch wenn Sie gerade glauben, die Kinder haben nichts. Hören Sie?“„Ja doch, ja.“
Die Frau vom Gesundheitsamt hat eine wenig pädagogische Art, Eltern am Telefon über Läuse aufzuklären. Fernmündliches Unbehagen übermittelt die Dame, der es obliegt, in den Haushalten, die in der Schulklasse den Befall der Kinderköpfe durch Pediculus humanus capitis – so der lateinische Name der gemeinen Kopflaus – gemeldet haben. Ihr Job ist es, einige Tage später anzurufen. Um zu prüfen, ob die Maßnahmen, die in einer solch haarigen Situation angezeigt sind, auch ordnungsgemäß eingeleitet wurden. Im konkreten Fall wurden sie. Und nicht nur ein Mal.
In jüngerer Zeit hat es in der Region vermehrt Meldungen über Kopflausbefall gegeben. 50 Fälle aus dem Bodenseekreis sind dem Gesundheitsamt angezeigt worden, dazu fünf aus Kindergärten, sodass sich das Landratsamt veranlasst sah, eine diesbezügliche Pressemitteilung herauszugeben. Und im Gefolge dieser Veröffentlichung fragten viele Eltern in den Einrichtungen nach. LäuseGroßalarm? Doch eher nicht. In Ravensburg spricht das Landratsamt von wenigen gemeldeten Fällen, 16 im September und neun im Oktober.
Während die Gefahr, die von den kleinen Biestern ausgeht, also kaum der Rede wert ist, kann ihr Auftreten dennoch für gehörige Aufregung sorgen – insbesondere wenn Eltern zunächst auf die Ratschläge von Omas oder Tanten hören, die das Zutagetreten des Schädlings meist von radikalen Einschnitten begleitet sehen möchten. „Also, da geht jetzt kein Weg dran vorbei: Ihr müsst alle Textilien, Bettwäsche, Mützen, Schals und die Stofftiere der Kinder in Säcke stopfen und mindestens drei Tage in die Gefriertruhe stecken“, sagt eine Verwandte älteren Semesters, als sie von den Läusen hört. Nach dieser Prozedur sei es angezeigt, alles noch einmal so heiß wie möglich in der Waschmaschine durchzuwaschen. „Dann sind sie hin.“
Dass diese Ratschläge an groben Unfug grenzen, wissen Eltern oft nicht, weil man etwa der Schwiegermutter eben doch mehr vertraut als zum Beispiel dem Robert-Koch-Institut (RKI) oder der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die sich auf das RKI stützt. Dort lautet die wissenschaftlich fundierte Empfehlung, ausgebreitet auf insgesamt 24 Broschüren-Seiten, die neben Deutsch auch auf Türkisch, Russisch, Englisch und Arabisch verfügbar sind: „Mützen, Schals, Decken, Kopfkissen, Kuscheltiere und weitere Gegenstände, die mit dem Kopfhaar des Betroffenen in Berührung gekommen sind, für drei Tage in einer verschlossenen Plastiktüte aufbewahren – länger überleben Kopfläuse ohne Blutmahlzeit nicht.“Von Einfrieren und in die Kochwäsche geben steht da nichts.
„Kuhimuh“kommt in die Tüte
Aber selbst diese deutlich entschärften Maßnahmen führen in Haushalten mit kleineren Kindern zu emotionalen Ausnahmesituationen. Etwa wenn am Abend im Bettchen plötzlich die über alles geliebte „Kuhimuh“, also ein Kuscheltier in der verniedlichten Form eines Rindes, fehlt. „Wo ist die ,Kuhimuh’“?, fragt das Kind mit bebender Stimme und seine Augen füllen sich mit Tränen, während man das Gefühl hat, da hinten in der Zimmerecke im Plastiksack, bewegt sich das Stofftier, atmet einen stummen Schrei. Drei Tage können eine sehr, sehr lange Zeit sein.
Der bevorzugte Übertragungsweg von Kopfläusen ist der unmittelbare Kontakt unter Kindern, gerade wenn sie die Köpfe zusammenstecken. Laut Robert-Koch-Institut kommt es sehr selten vor, dass sich Läuse auch durch Kleidungsstücke übertragen. Besonders anfällig sind Kinder, die ihre Haare lang und offen tragen. Denn das wirkt fast wie ein magnetisches Netz. Dabei ist es der gemeinen Kopflaus vollkommen egal, ob das Haar frisch gewaschen ist oder nicht. Laut BZgA gibt es sogar Hinweise, dass Läuse frisch gewaschenes Haar bevorzugen. Womit das noch immer unterschwellig haftende Vorurteil ausgeräumt wäre, der Befall von Läusen könnte doch etwas mit der körperlichen Hygiene der Lausbefallenen zu tun haben.
Glücklicherweise sind auch die Zeiten vorbei, in denen Hausmittel erste Wahl waren, um der Situation Herr zu werden. Das Wirkungsvollste, wenn auch radikalste: Glatze schneiden. Im Laufe der Jahrzehnte sind die pharmakologischen Mittel gegen Läuse, die aufgetragen werden, immer verträglicher geworden. Ältere berichten noch mit Schrecken von übelriechenden Tinkturen, die stundenlang auf dem Kopf und unter einem Plastiksack vor sich hingären mussten. Nicht selten traten zudem allergische Hautreaktionen auf.
Heute gibt es eine Reihe von zugelassenen Mitteln, die oft zunächst nur eine Anwendung nötig machen und mit einer Einwirkzeit von höchsten 30 Minuten deutlich komfortabler sind. Die Mittel sind zwar nicht verschreibungspflichtig. Aber wenn der Arzt sie verschreibt, dann erstatten die Krankenkassen die Kosten. Unerlässlich ist die Wiederholung der Anwendung nach sieben bis zehn Tagen, um auch die sogenannten Nissen, also die Nachkommen der eigentlichen Läuse in ihren Larvenhüllen sicher und damit nachhaltig zu erwischen. Kinder dürfen übrigens unmittelbar nach der ersten Anwendung wieder in Kindergarten und Schule gehen.
Entgegen anderslautender Meldungen ist der Befall mit Kopfläusen meldepflichtig. Das ist im Infektionsschutzgesetz klar geregelt, dort steht in sehr rustikaler Sprache unter § 34 in Absatz eins: „Personen, die verlaust sind, dürfen in den in § 33 genannten Gemeinschaftseinrichtungen keine Lehr-, Erziehungs-, Pflege-, Aufsichts- oder sonstige Tätigkeiten ausüben, bei denen sie Kontakt zu den dort Betreuten haben, bis nach ärztlichem Urteil eine Weiterverbreitung der Krankheit oder der Verlausung durch sie nicht mehr zu befürchten ist.“Das gilt natürlich auch für die Kinder selbst. Außerdem muss die Leitung der Einrichtung laut Gesetz das Gesundheitsamt informieren – und auch Namen und Daten des befallenen Kindes an die Behörde weitergeben.
Denn sonst kann die Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes im Nachgang zur Kopflausaffäre ihren Aufklärungsanruf bei den Eltern nicht machen. Auch wenn dieser nicht das reine Vergnügen ist: Notwendig ist er dennoch. Denn nur wenn alle Eltern der Kinder einer Klasse die Köpfe intensiv absuchen und bei Bedarf behandeln, ist das kleine Krabbeln schnell wieder vorbei.