Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Grenzerfahrungen im Nationalpark
Im Bayerischen Wald ist das Miteinander von Ökonomie und Ökologie höchst lebendig
Deutschlands ältester Nationalpark steht zugleich für das größte zusammenhängende Waldgebiet Mitteleuropas. Und für langjährige Erfahrung mit den Chancen und Grenzen der Bemühungen, von Menschen gemachte Landschaft der Natur zurück zu geben. Wir haben uns dort umgesehen und einen Förster getroffen, der sich vom Studium bis in den Ruhestand um den Bayerischen Wald gekümmert hat.
Für einen, der sich ein Leben lang lieber um den Wald gekümmert hat und weniger um die Karriere, hat es Christoph Graf weit gebracht im Staatsdienst. Bevor er sich vor eineinhalb Jahren in die Pension verabschiedete, führte er als Leitender Forstdirektor den Forstbereich des Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten im bayerischen Regen.
Geprägt vom Wald
Du musst diese Gegend mögen oder hassen. „Dreivierteljahr is Winter, Vierteljahr is kalt – Boarischer Wald“, heißt es im Spottlied. Es ist der Wald, der die erdverbundenen Menschen dieser Region prägt, bis heute. Nirgendwo in Deutschland haben sie ihm bis heute mehr Platz gelassen. Nirgendwo abhängiger vom Forst gelebt. Holzmacher ist dort immer noch eine angesehene Profession. Und irgendwie gibt es zu denken, dass dieser von Menschen geprägte Wald schon als Natur- und Kulturerbe zugleich verstanden wurde, als die Deutschen noch andere Sorgen hatten als einen vom Broterwerb losgelösten Naturbegriff. Holz war dort immer schon Baustoff für Waidlerhäuser und – vor allem – Energieträger. Zumal in den Glashütten, heute noch in fast jedem Dorf zu finden, zumindest mit einem Fabrikverkauf.
Christoph Graf war Münchner durch und durch, als ihn sein Forststudium für ein Praktikum in den Wald verschlug. Damals noch eine kleine Weltreise, die Autobahn bis Deggendorf kam erst später. Aber den Nationalpark gab es schon. Zumindest das, was man sich in jenen Gründerjahren darunter vorstellte: „Wir sind anders an die Sache herangegangen als es heute üblich wäre. Es ging darum, das Bestehende zu bewahren und zu schützen. Nicht in erster Linie darum, natürliche Entwicklungen im Wald ohne menschliche Eingriffe zuzulassen.“
Bevor es den Nationalpark gab, kamen die Gäste in den Wald, um billig zu essen und zu übernachten, zu den Höhepunkten eines solchen Urlaubs gehörte ein Blick von den Gipfeln auf eine Grenze, die sie den Eisernen Vorhang nannten. Wie drüben in Tschechien, das hier bis heute das „Böhmische“heißt, hat diese selbst für Schmuggler unüberwindliche Grenze lange verhindert, was wir Entwicklung nennen. Auch den Verbrauch von Landschaft und Ressourcen.
Von den Anfängen an hatte die Nationalpark-Idee neben Naturschutz das Ziel, den eher bescheidenen Tourismus zu stärken. Und auch dazu war der Wald das wichtigste Kapital. „Wir wussten, dass wir den Wald vor Massentourismus schützen müssen, damit er attraktiv bleibt“, erinnert sich der Forstmann Graf. So entstand früh die Idee, die Besucherströme zu kanalisieren. Mit Attraktionen wie Besucherzentren, Lehrpfaden und Wildgehegen. Manche Insider sagen „Ablenkungsfütterung“dazu, wie für die Futterkrippen, die Reh und Hirsch davon abhalten, die Bäume zu verbeißen. Hier entstand auch vor einigen Jahren Deutschlands längster und höchster Baumwipfelpfad, Europas schönster, urteilen Sachkundige.
Wer in die Herzkammern des Nationalparks will, der muss sich mit wenigen freigegebenen Wegen begnügen oder begleitete Exkursionen buchen. Und stark sein: Wie beim Anblick eines frisch ausgeweideten Rehbocks offenbart der Wald in diesen Kernzonen, dass auch Sterben Förster Christoph Graf hat sein Berufsleben im Bayerischen Wald verbracht und kennt ihn gut. und Vergehen zur Natur gehören. Kritiker nennen die abgestorbenen Stämme „Baumleichen“. Hier stehen und liegen sie, so weit das Auge reicht. Prägen auch aus der Ferne das Bild der Gipfel.
Den Einheimischen, gewohnt vom Wald und vom Holz zu leben, haben solche Bilder Angst gemacht. Vor allem davor, dass die Borkenkäfer, die an den Nationalpark-Bäumen ganze Arbeit leisteten, auf ihren Nutzwald übergreifen. Und davor, dass der Anblick die Feriengäste schreckt. Forstmann Graf, der spätestens in seiner Referendarzeit merkte, das er nie mehr anderswo leben wollte als in dieser Gegend, hat solche Sorgen verstanden: „Es geht nur gut, wenn wir die Betroffenen mitnehmen.“
Nach einem schweren Sturm am 1. August 1983 hatte der damalige Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann entschieden, nicht mehr in die natürliche Waldentwicklung einzugreifen. Es sollte ein „Urwald für unsere Kinder und Kindeskinder“entstehen. Rund 70 000 Festmeter Windwurf-Bäume blieben sich selbst überlassen – und dem Käfer. „Bis dahin“, erinnert sich Christoph Graf, „haben wir den Käfer bekämpft wie sonst auch.“Also raus mit den befallenen Bäumen, so schnell wie möglich.
Mit dem Paradigmenwechsel begannen dramatische Zeiten: Überall in der Region rotteten sich Waldbauern in Protestvereinen zusammen. Ein Kulturkampf um die reine Naturlehre, der abgemildert bis heute brodelt. Obwohl in den Randzonen des Nationalparks, an der Grenze zum benachbarten Privatwald, längst wieder Käfer-Vorsorge betrieben wird. Und obwohl die Zahl der Menschen steigt, die das neue Leben bewundern, für das die Käfer Platz gemacht haben: Sonst fast überall in Europa ausgestorbene Insekten und ebenso seltene Schmarotzer-Pilze. Nebst Tieren, die solche Biotope lieben. Wie das Auerhuhn, das aber trotz idealer Bedingungen und menschlicher Hilfe nicht so recht hochkommen will. Ein Zeichen, dass Artenschutz wohl mehr braucht als ein paar Reservate.
Mitunter – und nicht selten – zeigt sich eben auch im ältesten und größten Wald-Nationalpark der Nation, dass das „Zurück zur Natur“seine wohl natürlichen Grenzen hat. „Es gibt keine Inseln der der Seligen“, kommentiert der Leitende Forstdirektor a.D., eher gelassen. Im Erweiterungsgebiet, das dem Park im Jahr 1997 zugeschlagen wurde, wird der Käfer außerhalb der Naturzonen klassisch bekämpft.
Nach den Jahren im Nationalpark wechselte Christoph Graf 1986 ins angrenzende Forstamt Freyung, das er bis zur Forstreform im Jahr 2005 leitete – wenn man so will zur Gegenseite, auf der ein Wald auch Geld verdienen muss. Aber das sieht der Praktiker nicht als Gegensatz: „Wir haben im Nationalpark viel gelernt. Vor allem, wie Forstleute natürliche Entwicklungen auch in den Wirtschaftswäldern für die optimale Umsetzung der naturnahen Forstwirtschaft für sich und den Wald nutzen können. Der naturnah bewirtschaftete Wald leistet für die Ökologie nämlich weit mehr als alle Schutzgebiete zusammen.“
Gemeint ist das womöglich wundersame Zusammentreffen von ökonomischen und ökologischen Interessen: „Was der Wald und damit die Waldbesitzer für Natur und Klima leisten, wird nicht bezahlt und wäre wohl auch nicht bezahlbar“, sagt der erfahrene Praktiker. Und da klingt auch eine behutsame Warnung mit, die Fichte als „Brotbaum“zu verteufeln. Schließlich muss sich Wald ja auch wirtschaftlich rentieren.
Fichten wachsen nach
In den Hochlagen des Bayerischen Waldes halten Buchen und andere Laubbäume das harte Klima nicht aus, auch nicht nach weiteren 100 Jahren Erderwärmung. Da ist die Prognose der Wissenschaftler aus der bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft eindeutig. Deshalb wird im Nationalpark auch wieder ein Fichtenbestand die jetzt vom Borkenkäfer getöteten Fichten ersetzen – ganz natürlich
„Wir müssen lernen Geduld zu haben“, fasst Förster Graf seine Lebenserfahrung zusammen. In diesem Sinne hat er sich auch gegen das Ansinnen gewehrt, im Nationalpark die Wintergatter für das Rotwild aufzugeben: Anders sei das Miteinander von Schalenwild und Wald im Wandel nicht zu schaffen. Und den Hirsch als König der Wälder wie Ungeziefer zu verfolgen, das käme dem bekennenden Jäger nicht in den Sinn: „Wir tragen Verantwortung für einen Lebensraum und dafür, dass sich die Menschen in diesem Lebensraum wiederfinden – und auch das Wild.“
Ein 360-Grad-Foto mit Video über die Aufarbeitung von Sturmholz in heimischen Wäldern sowie alle bisherigen Teile der Serie finden Sie unter Das bringt die Serie: Die Deutschen und ihr Wald - Mit Pilzexperten unterwegs - Mythos Wald - Feinkostladen Wald - Ruhe im Friedwald - Von Füchsen, Wildkatzen, Luchsen und Wölfen - Baustoff Holz - Die Schädlinge des Waldes - Zwischen Ökonomie und Ökologie - Die Rolle des Jägers - Der Wald als Gesundbrunnen - Geheime Sprache der Bäume - Naturfotograf Klaus Echle - Zukunft in Zeiten des Klimawandels
Erschienene Artikel unter www.schwäbische.de/unserwald
Was der Wald und damit die Waldbesitzer für Natur und Klima leisten, wird nicht bezahlt und wäre wohl auch nicht bezahlbar.