Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Angela Merkels Kondition ist gefürchtet
Lange politische Nächte – die Kanzlerin hält immer am längsten durch
BERLIN - Sie habe „gewisse kamelartige Fähigkeiten“, sie könne Schlaf speichern, hat Angela Merkel einmal bei einem „Brigitte-Gespräch“in Berlin gesagt. So mancher ihrer Erfolge hängt genau davon ab. Denn was in Berlin gleich zur „Nacht der langen Messer“hochstilisiert wird, ist auf europäischer Ebene nichts besonderes: Politische Partner mit ganz unterschiedlichen Ansichten setzen sich am frühen Abend zusammen, um – wenn es sein muss – die ganze Nacht zu verhandeln.
Jeder, der auf Seiten der Verhandler oder der Berichterstatter schon eine Weile dabei ist, verfügt über einen Vorrat an Anekdoten über solche Sitzungen. Legendär ist in der Hinsicht der EU-Gipfel im März 1999 in Berlin. Lustig wurde es bereits am Nachmittag, als im Pressezentrum an der Bu- dapester Straße der Strom und die Heizung ausfielen und auch die Uhr der Gedächtniskirche stehenblieb.
Kamingespräche abgeschafft
Die Verhandler im benachbarten Interconti waren zwar von der Panne nicht betroffen, hielten aber die Uhr, symbolisch gesprochen, ebenfalls an. Sie konnten sich nicht auf die „Agenda 2000“einigen, ein Sparprogramm für die Regional- und Agrarpolitik. Um 5.58 Uhr meldete die Agentur, ein Durchbruch sei geschafft. Als wenig später ein sehr übermüdeter Gerhard Schröder vor die Presse trat, wurden manche den Eindruck nicht los, er habe über die von ihm verkündeten Zahlen jede Übersicht verloren. Jacques Chirac, dem französischen Präsidenten und Tony Blair, dem britischen Premier, ging es nicht besser.
Schon einen Tag später meldeten die Journalisten, die meisten Fragen seien in der Nacht überhaupt nicht geklärt, sondern auf die Ebene der Fachbeamten weitergereicht worden.
Seit Angela Merkel auf EU-Ebene viele Fäden zieht, sind die Nachtsitzungen eine Seltenheit geworden. Die Kanzlerin liebt präzise Vorbereitung, mag keine Überraschungen und hält nichts davon, Vernunft durch Sitzfleisch zu ersetzen. Auch die bei Journalisten sehr beliebten nächtlichen „Kamingespräche“nach Ende des Gipfels hat sie schrittweise abgeschafft und durch nüchterne Pressekonferenzen ersetzt. Als in dieser Frage noch Schröder das Sagen hatte, kam er oft spät und recht beschwingt mit seinem Außenminister Joschka Fischer im Hotel an, wo die Journalisten stundenlang gewartet hatten.
Bei den Jamaika-Verhandlern in Berlin geht es aus vielen Gründen viel nüchterner zu. Die Rollen zwischen Gebenden und Nehmenden sind hier nicht so klar aufgeteilt. In Europa zahlen die Nordländer, also zum Beispiel die Niederlande, und haben dementsprechend andere Interessen als beispielsweise Griechenland. Trotz dieser Gegensätze finden die Europäer am Ende aber fast immer einen Kompromiss.