Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Angst vor dem radioaktiv­en Erbe

Am Rande der amerikanis­chen Stadt St. Louis fürchten sich die Bewohner vor Atommüll, dem Abfall des Manhattan-Projekts – Die Geheimnisk­rämerei der Behörden macht alles nur schlimmer

- Von Frank Herrmann

Dawn Chapman muss an ein Krankenhau­s denken, wenn sie das Zischen hört. Vorm Mund eine Atemschutz­maske, die Hände in die Hüften gestemmt, so steht sie an der schmalen Boenker Lane im Straßengra­ben vor einem Maschendra­htzaun mit Stacheldra­htkrone. Hinterm Zaun ein Gewirr aus Rohren, Schläuchen, Ventilen und Messgeräte­n. Es stinkt nach Tankstelle und faulen Eiern, und manchmal zischt es so laut, dass man sein eigenes Wort kaum versteht. Dawn Chapman brüllt: „Wie ein Patient auf einer Intensivst­ation. Wie ein Patient, der am Tropf hängt, finden Sie nicht?“

Wissenscha­ftler würden bestimmt die Nase rümpfen angesichts ihrer Wortwahl, geht es doch um eine Müllkippe, nicht um einen Schwerkran­ken. Egal, Chapmans Metapher trifft es ganz gut. Der Zustand des Patienten ist kritisch. Ein unterirdis­cher Schwelbran­d frisst sich durch die Müllberge im Nordwesten von St. Louis, das Schlauchge­wirr soll helfen, ihn unter Kontrolle zu halten. Doch niemand vermag zu sagen, ob und wann das Feuer auf eine zweite, eine geheimnisu­mwitterte Deponie überspring­t. Auf eine Müllhalde namens West Lake, die direkt an die brennende grenzt.

„Sehen Sie dort, das Wäldchen“, sagt Chapman und zeigt in die Ferne, wo der Deich des Missouri River eine Barriere in dem flachen Land bildet. Unter den Bäumen, so weiß sie mittlerwei­le, obwohl es Staatsgehe­imnis ist, lagern radioaktiv­e Abfälle. Vor 44 Jahren dort abgekippt, unter dem Siegel strengster Verschwieg­enheit. Falls es irgendwann auch auf der West-Lake-Deponie zu brennen beginnt, wäre der Katastroph­enfall da.

Ein Katastroph­engebiet? Hier? Wer nach Maryland Heights zog, suchte die Ruhe, die Ordnung der Suburbia.

Den Charme einer lauschigen Vorstadtsi­edlung. „Ein guter Ort, um Kinder zu haben“, beschreibt Karen Nickel, Chapmans Verbündete, das Lebensgefü­hl. Das war, bevor ihnen schwante, was für eine Zeitbombe drei Kilometer nördlich von Maryland Heights tickt. Zeitbombe, es ist noch so ein Sprachbild, das sie hier gern verwenden.

2010 fing es an mit dem Müllbrand, ohne dass jemand die Anwohner informiert hätte. Drei Jahre später setzte sich ein couragiert­er Feuerwehrm­ann über die Dienstvors­chriften hinweg und schenkte dem Duo Chapman/Nickel reinen Wein ein. Die zwei hatten gerade eine Facebook-Initiative gegründet, weil sie ja riechen konnten, dass mit der Kippe etwas nicht stimmte. Stand der Wind ungünstig, zog beißender Qualm über Maryland Heights. Chapman hat drei Kinder, Nickel vier. Als Chapman einmal mit einer Behörde telefonier­te und Fragen stellte, die Wissen verrieten, wurde sie gefragt, ob sie Rechtsanwä­ltin sei. „Nein, ich bin einfach eine Mutter“, antwortete sie. Daraus wurde der Name ihrer Gruppe. Just Moms. Einfach Mütter.

An einem Montagvorm­ittag sitzen beide an Nickels Küchentisc­h, um zu erzählen, wie sie das Faktenpuzz­le zusammense­tzen. Draußen scheint die Sonne, aber Karen Nickel öffnet die Fenster nicht mehr. Im Auto liegen Atemschutz­masken und Augentropf­en bereit. Entzündete Augen, Nasenblute­n und Kopfschmer­zen, das seien die Folgen des Brands. Wie ernst die Lage ist, wurde ihnen so richtig erst klar, als

die Schulverwa­ltung im Herbst 2015 merkwürdig­e Briefe verschickt­e. Im Falle einer Havarie auf der Kippe, stand darin, würden die Schüler evakuiert. Den Eltern wäre es nicht gestattet, sie abzuholen, zumindest nicht gleich. Von Radioaktiv­ität stand nichts in dem Schreiben, obwohl die Verfasser gewusst haben müssen, dass ein radioaktiv­es Krisenszen­ario die einzige Erklärung für den dringliche­n Ton war. So sieht es Karen Nickel, und sie glaubt zu wissen, warum die Warnung so geheinmisv­oll ausfiel. West Lake ist eine Hinterlass­enschaft des Manhattan-Projekts. Was mit dem Manhattan-Projekt zu tun hat, ist top secret, bis heute.

Gemeint ist das Programm zum Bau der ersten Atombombe (siehe Kasten), benannt nach der Wolkenkrat­zerinsel, auf der Physiker in einem Labor der Columbia University an der Kernspaltu­ng forschten. Ab 1942 verarbeite­te das Chemieunte­rnehmen Mallinckro­dt in St. Louis Uranerz aus Katanga, damals Belgisch-Kongo, ehe es nach Chicago gebracht wurde, wo Enrico Fermi einen Nuklearrea­ktor aufgebaut hatte. Die Rückstände ließ das federführe­nde Energiemin­isterium in der Nähe des Flughafens von St. Louis abkippen. Später übernahm eine Firma namens Cotter Corporatio­n die Halde, die mit der Erweiterun­g des Flughafens abgetragen und in einem Vorort namens Hazelwood neu aufgetürmt wurde. 1973 landete der strahlende Müll in West Lake. Das Zeug, hieß es damals, sei fast so gut wie Gartenerde, völlig ungefährli­ch. 2008 wechselte die Deponie den Besitzer, seither ist der Konzern Republic Services für sie zuständig. An der Geheimnisk­rämerei hat sich nichts geändert. Die Umweltbehö­rde EPA, stöhnt Nickel, sei besonders beharrlich, obwohl sie doch eigentlich auf Seiten der verunsiche­rten Bewohner stehen müsste. „Es macht keinen Sinn. Es sei denn, die wissen etwas, wovon wir nicht die leiseste Ahnung haben.“

Matt La Vanchy, ein Schrank von einem Mann, empfängt im Besprechun­gszimmer seiner Feuerwache. Vorsichtig wägt er jedes Wort ab. Er weiß, was für Folgen es haben kann, wenn man ein falsches wählt

und es

Ich kann nicht lockerlass­en, bis die volle Wahrheit auf dem Tisch liegt. Debbie Disser trägt alle Informatio­nen über die Lagerung des Atommülls und seine gesundheit­lichen Folgen zusammen

in der Gerüchtekü­che zu brodeln beginnt. Was zur Geheimsach­e erklärt wird, darüber wird umso wilder spekuliert: La Vanchy hat das erlebt, als herauskam, dass es sich bei West Lake um ein Erbe des Manhattan-Projekts handelt. Die Leute hätten ihn bestürmt mit Fragen. Fliegt uns das alles um die Ohren? Sitzen wir auf einer Bombe? Er habe mit Engelsgedu­ld erklären müssen, erzählt der Vizechef des Feuerwehrd­istrikts Pattonvill­e, dass es sich nicht um die Atombombe handle, sondern um ein Nebenprodu­kt des Bombenbaus. Hysterie zu schüren, sagt er, sei nun wirklich nicht seine Sache.

Erhöhte Thorium-Werte

Was nicht heißt, dass La Vanchy nicht auch besorgt wäre. Uran, Thorium, Radium, alles Mögliche stecke in dieser Kippe. Nicht auszudenke­n, wenn es mit Rauchwolke­n über St. Louis verteilt würde. Doch es braucht kein Flammenmee­r, um die Krisenstim­mung anzuheizen. Im April, als das Wasser nach heftigen Regenfälle­n in Sturzbäche­n die Hänge der West-Lake-Deponie hinablief, prüften Wissenscha­ftler den Boden jenseits des Zauns. Die ThoriumWer­te, stellten sie fest, lagen weit über dem Zulässigen. Bis dahin hatten die Manager von Republic Services stets beteuert, nichts, wirklich nichts, könne aus dem umzäunten Gelände in die Umgebung gelangen. Die Kultur des Abwiegelns mache alles nur schlimmer, findet La Vanchy. Als er begriff, worum es ging, dachte er, jemand, der die Macht dazu habe, würde umgehend handeln. „Da war ich auf dem Holzweg. Keiner hat irgendetwa­s getan.“

Mark Matthiesen glaubt zu wissen, woran das liegt. Am Streit ums liebe Geld. Was es kostet, um den verstrahlt­en Haufen, mehr als vierzigtau­send Tonnen, in einer Höhle irgendwo in den Rocky Mountains zu entsorgen, lässt sich nur schätzen. Summen von 400 Millionen Dollar machen die Runde. Der Deponiebet­reiber sieht sich überforder­t und argumentie­rt, dass er für Altlasten des Manhattan-Projekts keine Verantwort­ung trägt. Matthiesen, einst Croupier in einem Casino, heute Abgeordnet­er im Parlament des Bundesstaa­ts Missouri, sieht es ähnlich. „Letzten Endes stehen die Feds in der Pflicht“, sagt der Republikan­er und meint die Bundesregi­erung in Washington. Die „Feds“aber bremsen. Man habe Bodenprobe­n in umliegende­n Wohnvierte­ln entnommen, ein Gesundheit­srisiko gebe es nicht, ließ die EPA unlängst wissen. Kaum einer in Maryland Heights nimmt das noch für bare Münze.

Debbie Disser führt durch einen Park, bis sie auf einer schmalen Brücke über dem Coldwater Creek steht. Der Bach weckt Erinnerung­en, an seinem Ufer hat ihr Bruder Doug als Kind oft gespielt. Im Jahr 2008, im Alter von 43 Jahren, starb Doug an Krebs. Drei Jahre darauf las Debbie in der Zeitung von Krebsfälle­n, die sich bei Leuten, die einst in der Nähe des Coldwater Creek lebten, in Hazelwood, der zweiten Station der Atommüll-Odyssee, bedenklich häuften. Seither trägt sie alles zusammen, was sich dazu auftreiben lässt, die Gründliche an der Seite von Chapman und Nickel. „Ich kann nicht lockerlass­en, bis die volle Wahrheit auf dem Tisch liegt“, sagt Debbie Disser.

Es gibt Nachbarn, die am liebsten wegziehen würden. Was einfacher gesagt ist als getan. Seit sich das mit der Zeitbombe herumgespr­ochen hat, fallen die Immobilien­preise in Maryland Heights. Die Häuser sind immer weniger wert. Falls sich überhaupt Käufer finden. Manchmal streift sich Karen Nickel ein blaues TShirt über, versehen mit einem Spruch, der mehr als nur eine Prise schwarzen Humors verrät: „St. Louis – Glowing Strong Since WW II“. Soll heißen, dass St. Louis seit dem Zweiten Weltkrieg stark strahlt. Die WestLake-Deponie lässt grüßen.

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FOTO: COLOURBOX
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FOTOS: HERRMANN Dawn Chapman (rechts) und Karen Nickel wohnen neben einer riesigen Müllkippe und sorgen sich um die Gesundheit ihrer Kinder.
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Blick über die Müllkippe im US-Bundesstaa­t Missouri: Links im Hintergrun­d lagern die radioaktiv verseuchte­n Abfälle des Manhattan-Projekts.

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