Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
EU stärkt eigene Verteidigung
25 EU-Staaten bringen offiziell Bündnis auf den Weg
BRÜSSEL/RAVENSBURG (AFP/dan) - Die Außenminister von 25 der 28 EU-Staaten wollen am heutigen Montag offiziell eine verstärkte EUVerteidigungskooperation beschließen. Umgesetzt wird damit die im EU-Vertrag vorgesehene ständige strukturierte Zusammenarbeit (englisch abgekürzt: Pesco). Deutschland soll nach Dokumenten die Führung bei vier von insgesamt 17 Militärprojekten übernehmen, darunter ein Sanitätskommando sowie eine Stelle zum Aufbau schnellerer Krisenreaktionskräfte.
„Pesco ist ein sehr weicher Beginn – weitere, konkrete Schritte müssen nun angegangen werden“, sagte CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“. Dennoch könnten die EU-Teilnehmerstaaten durch ihre Kooperation im Verteidigungsbereich „zusammen stärker sein“, sagte Kiesewetter weiter.
PARIS - Das Wort schmerzt. Die Pariser Café-Besitzerin Veronique Tafanel tippt es in ihre Handy-App, um es von ihr übersetzen zu lassen. „Tirer“, steht da auf Französisch, die englische Übersetzung: „shoot“– schießen. Sie braucht es, um vom Abend des 13. November 2015 zu erzählen, an dem islamistische Terroristen in Paris 130 Menschen töteten und 683 verletzten.
Wer verstehen will, warum Deutschland, Frankreich und 23 weitere EU-Staaten sich auf eine stärkere gemeinsame Verteidigungspolitik geeinigt haben, muss Tafanel zuhören. Wer begreifen will, warum Frankreich das Bündnis mit dem Namen Pesco („Permanent Structured Cooperation“) vorangetrieben hat, muss sich die Folgen des 13. November 2015 verdeutlichen. Am heutigen Montag wollen die EU-Außenminister die verstärkte Verteidigungskooperation offiziell beschließen.
Tafanel fehlen manchmal die englischen Worte, wenn sie sich an den Abend erinnert. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“bekannte sich zu diesen Taten. Veronique Tafanel sitzt in ihrem Café, „Le Baromètre“, während sie erzählt, wie sie rund 100 Menschen in ihrem Appartement versteckt hat. Die Polizei bereitete währenddessen ihren Einsatz vor.
Nur wenige Meter neben ihrem Lokal gab es den verheerendsten der Anschläge an diesem Abend, im Konzertsaal des „Bataclan“. Bei einem Auftritt der Band Eagles of Death Metal feuerten Terroristen in die Menge, zündeten Sprengstoffgürtel. 90 Menschen starben. „Viele der jungen Menschen im Appartement waren verletzt. Einige haben Freunde und Familienangehörige verloren“, erinnert sich Tafanel.
Frankreich hofft auf Unterstützung
Der Terroranschlag vom November 2015 war der bislang schwerste in der Geschichte Europas. Als Folge darauf berief sich Frankreich – als erster EU-Staat überhaupt – auf den Artikel 42 des EU-Vertrages. Dieser besagt: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung.“Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sicherte Frankreich damals den Beistand Deutschlands zu. Deutschland beteiligte sich mit Aufklärungs- und Tankflugzeugen – zu wenig, wie der französische Ex-Präsident François Hollande damals vor Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beklagte.
Es war nicht das erste Mal, dass Frankreich sich mehr militärische Initiative seines wichtigsten Partners gewünscht hat. Es engagiert sich seit 2013 im zerfallenden Staat Mali, in dem Islamisten die Macht zu übernehmen drohten. Es sei schwierig gewesen, damals Staaten für den gefährlichen Einsatz in dem westafrikanischen Land zu gewinnen, erinnert sich ein hoher Beamter im französischen Verteidigungsministerium. Mittlerweile sind 900 Bundeswehrsoldaten in Mali stationiert – mehr als in Afghanistan.
Hinter Einsätzen wie in Mali oder jenen in Syrien, im Irak oder Libyen, steckt die strategische Idee, die Schlacht um Europas Sicherheit werde in der Sahel-Zone und in Nahost geschlagen. Oder, wie es die frühere französische Verteidigungsministerin Sylvie Goulard in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“erklärte: „Es geht in Mali nicht um französische Kolonialinteressen. Es geht um die Sicherheit auf deutschen Weihnachtsmärkten.“In Zukunft soll diese im Rahmen einer „permanenten strukturierten Zusammenarbeit“gewährleistet werden. Genau zwei Jahre nach den Ereignissen in Paris, am 13. November 2017, haben sich EU-Mitgliedsstaaten auf das Pesco-Abkommen geeinigt.
Pesco soll die Verteidigung schneller, effizienter und unbürokratischer machen. Und europäischer. Bislang waren die EU-Länder im Rahmen des Nato-Abkommens auf die Hilfe des großen transatlantischen Bruders, den USA, angewiesen.
Auf diesen Partner wollen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht mehr verlassen – und können es wohl auch nicht mehr. US-Präsident Donald Trump hatte die Nato mehrfach als „veraltet“und „überflüssig“bezeichnet. Beim NatoGipfel in Brüssel im Mai dieses Jahres mahnte er die Nato-Partner, mehr Geld für den gemeinsamen Wehretat auszugeben. Nicht alle Nato-Mitglieder zahlen die vereinbarten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts – inklusive Deutschland. Auch hat sich die Sicherheitslage für Europa verschärft. Russland sorgt in den ehemaligen Sowjet-Staaten für Unruhe. In Nahost und Afrika drohen fragile Staatengefüge zu zerbrechen. Dazu kommt die wachsende Bedrohung durch den Terrorismus. Dass die USA in dieser Situation ihre Unterstützung zurückfährt, erklärt, warum es bei der Initiative für ein EU-eigenes Verteidigungsbündnis plötzlich so schnell ging. Eine solche Idee gibt es seit 1954, vor anderthalb Jahren gab es eine erste deutsch-französische Initiative für Pesco. Zudem setzte Großbritannien traditionell auf die Nato und blockierte den Aufbau einer EUVerteidigung – mit dem Brexit fällt Großbritanniens Blockade.
Gemeinsame Kampftruppen
Bislang umfasst das Bündnis 17 Projekte. Die Liste reicht von einer mobilen Krankenstation, Logistikdrehkreuzen bis hin zu einer gemeinsamen Offiziersausbildung. Deutschland wird die Führung von vier dieser Projekte übernehmen. Auch soll „Battlegroups“, also Krisenreaktionskräfte, mit Soldaten aus verschiedenen Staaten aufgebaut werden. Diese gibt es bereits. Doch sie kamen bislang noch nicht zum Einsatz. Holland hofft auch, innerhalb der EU-Truppen leichter verschieben zu können.
Auch hat Pesco eine ökonomische Dimension. Forschung, Entwicklung und Beschaffung neuer Waffensysteme sollen von mehreren EU-Staaten statt von einzelnen Ländern getragen werden. Mehr Wettbewerb auf den europäischen Rüstungsmärkten ist ebenfalls eine der Pesco-Verpflichtungen. Dafür sorgen soll die stetige Erhöhung des Verteidigungsbudgets durch die Pesco-Staaten. Ziel ist, die Rüstungsausgaben mittelfristig auf 20 Prozent des Verteidigungshaushalts zu erhöhen. 190 Milliarden Euro waren es EU-weit im vergangenen Jahr, mehr als doppelt so viel wie der Verteidigungsetat Russlands.
Als dies schafft – so glaubt Cafébesitzerin Tafanel – mehr Sicherheit für Europa. „Vor allem der bessere Austausch untereinander sorgt hoffentlich dafür, dass Gefährder schneller identifiziert werden“, sagt sie. Damit so etwas wie am 13. November 2015 nicht noch einmal passiert.
Für sie ist Pesco auch ein Schritt hin zur europäischen Integration, zu einem „echten Europa“, wie Tafanel es nennt.