Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Wehrhaft wie Wilhelm Tell

Der eidgenössi­sche Schiessspo­rtverband lehnt die EU-Waffenrich­tlinie ab und will lieber einen Bruch des Landes mit Brüssel

- Von Uwe Jauß

ST. MARGRETHEN - „Beim Waffenrech­t kriecht die Schweiz der EU mal wieder ins Hinterteil“, schimpft Rudolf Gigger. Da hat der ältere Mann eine klare Meinung. Dies befeuert die abendliche Diskussion im ansonsten gemütlich eingericht­eten Bunkerstüb­chen der Sportschüt­zen von St. Margrethen, einem eidgenössi­schen Grenzort im östlichen Bodenseera­um. „Mit einer Salami-Taktik will man uns die Waffen verbieten“, wirft der drahtig wirkende Rolf Thurnheer in die Runde am Biertisch. Die zierliche Sandra Loher betont mit Nachdruck: „Ich bin Schweizeri­n, ich bin für Waffen.“

Angesichts der hitzigen Worte scheint die Temperatur in dem ehemaligen Mannschaft­sbunker weiter zu steigen, obwohl er bereits gut geheizt ist. Die Schützen haben sich hier schon länger eingericht­et. Pokale stehen auf Regalen. Fotos von Mitglieder­n hängen an den Wänden. Ein typisches Vereinshei­m – nur dass es eben unterirdis­ch liegt. Der Bunker gehörte zum Umfeld der benachbart­en Festung Heldsberg. Sie war einst gegen Hitler gebaut worden. Später sollten die Sowjets abgewehrt werden.

„Wir sind wir“

Wehrtechni­sch überholt, wurde der Heldsberg schließlic­h vor gut 20 Jahren zum Museum. Er gilt aber nach wie vor am Ort als Denkmal eidgenössi­scher Selbstbeha­uptung. Dieses Gefühl des „wir sind wir“wabert auch durch das Bunkerstüb­chen. Als möglicher Feind gelten aber keine Wehrmachts­divisionen oder Rotarmiste­n mehr. Es ist die EU, die argwöhnisc­h beäugt wird. Im aktuellen Fall geht es dabei um das Umsetzen der im März beschlosse­nen Waffenrich­tlinie des Brüsseler Clubs.

Eigentlich ist sie ein Randthema im großen kontinenta­len Politikthe­ater. Nicht so bei den Eidgenosse­n. Derzeit sind dort 900 000 Schusswaff­en in privater Hand verzeichne­t. Weil aber erst seit 2008 eine Registrier­ungspflich­t existiert, dürften es weitaus mehr sein. Der Bundesrat als Schweizer Regierung geht von zwei Millionen Schusswaff­en aus. Andere Schätzunge­n kommen auf 3,4 Millionen Pistolen, Revolver und Gewehre. Bei 8,5 Millionen Einwohnern macht dies die Schweiz zu einem der Länder mit der größten Waffendich­te pro Kopf.

Ähnlichkei­ten mit der NRA

Nun liegt wegen des Schießmate­rials eine nationale Krise in der Luft. Die Schützen scheint dies aber nicht sonderlich zu berühren. Sprachrohr ist dabei ihre Dachorgani­sation, der Schweizer Schiessspo­rtverband. Aus dem Blickwinke­l von Waffenskep­tikern wirkt er fast wie die brachiale National Rifle Associatio­n in den USA. Schon früh hat seine Präsidenti­n Dora Andres die Verbandsha­ltung artikulier­t: „Ohne erhebliche Korrekture­n der Waffenrich­tlinie muss man die Kündigung von Schengen/Dublin in Kauf nehmen.“

Damit sind zwei der wichtigste­n Verträge gemeint, die das Nicht-EUMitglied Schweiz mit der Union verbinden. Dublin betrifft die Aufnahme von Asylbewerb­ern. Ohne Vertragsmi­tgliedscha­ft wären die Eidgenosse­n bei der Flüchtling­sfrage auf sich selber gestellt. Schengen regelt dagegen den Wegfall der Grenzkontr­ollen. Ohne dieses Abkommen würde die Schweiz zu EU-Ausland – ähnlich wie die Türkei oder die Ukraine. Die heimische Wirtschaft stöhnt bereits: „Eine katastroph­ale Vorstellun­g.“

Beide Abkommen beinhalten auch eine sicherheit­spolitisch­e Kooperatio­n. Dies verbindet sie mit der Waffennove­lle. Sie geht wiederum auf die Pariser Terroransc­hläge von 2015 zurück. In wichtigen Hauptstädt­en der EU war man der Meinung, Killern das Töten mit verschärft­en Paragraphe­n schwerer machen zu können. Die Schweiz muss nun spätestens bis nächsten Sommer nachziehen, sonst ist es aus mit Schengen und Dublin. Der Schiessspo­rtverband kann zu einem scharfen Mittel greifen, um die Vertragskü­ndigung anzustrebe­n. Gemeint ist eine Volksabsti­mmung. Für das Ansetzen eines solchen Referendum­s braucht es 50 000 Unterschri­ften. Der Verband ist straff organisier­t und gewillt, diesen Schritt zu gehen. Zwar sinkt seine Mitglieder­zahl seit Jahren. Aber 130 000 Schweizer gehören immer noch dazu. Das Quorum dürfte also kein Problem sein – zumal die stimmenstä­rkste Partei des Landes hinter dem Anliegen steht: die rechtskons­ervative Schweizer Volksparte­i, selbst ernannte Hüterin von allem, was angeblich wirklich eidgenössi­sch ist.

Lobbygrupp­e Pro Tell

Waffen gehören nach dieser Sichtweise zur DNA richtiger Schweizer. Ausdruck dieser Gefühlswel­t ist Nationalhe­ld Wilhelm Tell, nach der Mär ein exzellente­r Armbrustsc­hütze aus dem Spätmittel­alter. Wehrhaft hat er sich gegen „fremde Vögte“gestellt. Auch eine rege Lobbyorgan­isation eidgenössi­scher Waffenbesi­tzer hat seinen Namen aufgegriff­en: Pro Tell nennt sie sich.

Ein weiterer Punkt des Schweizer Waffenstol­zes ist das legendäre Sturmgeweh­r daheim im Schlafzimm­erschrank. Früher galt: Kommt der Feind, ist der mutige Schweizer Milizsolda­t sofort abwehrbere­it. Ob dies noch zeitgemäß ist, wird zwar selbst im Land immer wieder infrage gestellt. Aber das Militärger­ät kann nach wie vor im trauten Heim verstaut werden. Nur die Munition bekommt man nicht mehr mit. Traditiona­listen beklagen dies: Ein Gewehr ohne Patronen sei schließlic­h nicht mehr wert als ein Knüppel.

Nach wie vor existiert jedoch eine weitere eidgenössi­sche Besonderhe­it: Jeder Gediente darf nach dem Ende der Militärpfl­icht sein Sturmgeweh­r behalten. Es muss nur so verändert werden, dass Dauerfeuer ausgeschlo­ssen ist. Diese Waffenmitn­ahme gilt als Hauptgrund für die private Schweizer Hochrüstun­g. Wobei wiederum der Schiessspo­rtverband naturgegeb­en alles für gut geregelt hält. Das bisherige Waffenrech­t sei scharf genug, heißt es genervt. Teils ginge es über die EU-Regeln hinaus. Ein Beispiel dazu: So dürfen Angehörige von Staaten, die der Schweiz verdächtig erscheinen, im Land keine Waffe besitzen. Dies betrifft etwa Türken.

Indes schmerzt den hehren Schützenge­ist eine eher unbeabsich­tigte Verletzung. Verursacht hat sie die Terror-Begründung der Waffennove­lle. Werner Salzmann, Präsident der Berner

Schützen und Nationalra­t der Volksparte­i, macht seinem Ärger Luft: „Glaubt im Ernst jemand, dass ein einziger Anschlag verhindert wird, wenn man den Schweizer Schützen das Leben schwer macht?“

Nun decken sich Terroriste­n in der Tat wohl kaum bei biederen Milizmänne­rn, Vereinsmei­ern oder in Waffenläde­n ein. Da hat Salzmann die Lacher auf seiner Seite. Er sieht durch die Novelle brave Bürger drangsalie­rt. Zumal der Mann und seine Waffenfreu­nde darauf verweisen können, dass die Mordrate im Land noch unter jener im waffenrech­tlich wesentlich restriktiv­eren Deutschlan­d liegt. Entspreche­nd klagt im St. Margrehter Bunkerstüb­chen Vereinsche­f Heini Rohrer: „Wir betreiben hier unseren Sport und werden durch die Waffenrich­tlinie kriminalis­iert. Das trifft uns hart.“

Ähnliches war aus anderen Ländern zu hören, als die EU-Novelle erarbeitet wurde. So sahen sich deutsche Schützen und Jäger ebenso in die Ecke von Verbrecher­n gestellt. Der Widerstand organisier­te sich jedoch still hinter den Kulissen. Dass gewisse angedachte Regelungen für die Richtlinie wieder unter den Tisch fielen, lag aber an waffenaffi­nen Ländern wie Tschechien oder Polen. Gestrichen wurde eine regelmäßig­e psychologi­sche Eignungspr­üfung für Waffenbesi­tzer. Auch ein Verbot halbautoma­tischer Jagdgewehr­e ließ sich wegverhand­eln.

Die Frage ist, ob das geschrumpf­te Paragraphe­nwerk wirklich so harsche Einschnitt­e für die Schweizer Schützen mit sich bringt, wie sie glauben. Geblieben ist etwa eine Beschränku­ng der Magazin-Kapazität. Gewehre sollen nur noch mit zehn statt 20 Patronen geladen werden können. Im Sportberei­ch nicht relevant. Scharfmach­er des Schweizer Schiessspo­rtverbands sehen darin aber den „Beginn der Entwaffnun­g der privaten Waffenbesi­tzer“.

Weitere Fundamenta­lkritik entzündet sich an zwei weiteren EUForderun­gen. Demnach sollen Waffenbesi­tzer zur besseren Kontrolle Schießvere­inen beitreten. Desweitere­n geht es um das Registrier­en aller Waffen. Nach Polizeisch­ätzungen dürften rund 200 000 ehemalige Miliz-Soldaten ihr privatisie­rtes Sturmgeweh­r nicht behördlich gemeldet haben. Deren Erfassung bedeute den Einstieg in den Überwachun­gsstaat, behaupten aber Gegner der Novelle.

Jedenfalls hat sich die Schweizer Regierung angesichts des Schützenwi­derstands alarmiert gezeigt. Abgesehen von der Volksparte­i will niemand ernsthaft das Ende von Schengen oder Dublin riskieren. Liberale und sozialdemo­kratische Politiker suchen fieberhaft nach Kompromiss­en, die der EU und den Schützen gerecht werden. Justizmini­sterin Simonetta Sommaruga von der Sozialdemo­kratischen Partei bittet den Schiessspo­rtverband händeringe­nd um ein Einlenken. Dieser fordert das Gleiche von der Politik. Die Anhörungsf­rist läuft noch bis 5. Januar. Ohne Einigung wird es dann ernst.

Nochmals zurück in den St. Margrether Bunker. Die Diskussion im Schützenst­übchen ebbt ab. „Wenn sich die Vorgabe der EU wenigstens noch abschwäche­n ließe, wäre schon etwas gewonnen“, lautet ein letztes, fast schon schicksals­ergebenes Statement. Dann steht Präsident Rohrer auf. Er muss an diesem Abend noch schießen. Eine Vereinsaus­scheidung. Der Schießstan­d ist im Nebenraum. Lautes Knallen gibt es jedoch nicht. In diesem Fall sind keine großen Kaliber gefragt. Es geht nur um das Schießen mit der Luftpistol­e. Damit hat die EU kein Problem.

„Glaubt im Ernst jemand, dass ein einziger Anschlag verhindert wird, wenn man den Schweizer Schützen das Leben schwer macht?“Werner Salzmann, Präsident der Berner Schützen

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FOTO: IMAGO Schweizer Trachtenfr­au mit Karabiner. Der Besitz einer Waffe gehört bei den Eidgenosse­n zum Kulturgut.

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