Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Glückliche Heimkehr nach harten Jahren
Vor genau 68 Jahren kehrte Gerhard Kempe aus Gefangenschaft nach Haus – Ein Blick zurück
RIEDLINGEN - Über drei Millionen deutsche Zivilisten und Wehrmachtsangehörige verschlug es während des Zweiten Weltkrieges in russische Kriegsgefangenschaft. Zwei Millionen von ihnen kehrten zwischen 1946 und 1956 nach Deutschland zurück. Unter den Heimkehrern befand sich der heute 98-jährige Gerhard Kempe, der inzwischen in Riedlingen lebt. Am 20. Dezember 1949, also heute vor 68 Jahren, führte sein Weg vom Aufnahmelager Gronenfelde bei Frankfurt/Oder kommend, in seinen Geburtsort Hainichen in Sachsen.
Den Zweiten Weltkrieg erlebte Kempe als Fallschirmjäger. Nach bestandener Ausbildung am Heimatstandort Tangermünde, führten ihn Kampfeinsätze bis Kreta, Nordafrika, Frankreich und Italien. Als die Rote Armee die deutschen Truppen nach Berlin zurückdrängte, geriet er inmitten der zerbombten Hauptstadt am 5. Mai 1945 in russische Gefangenschaft. In Güterwaggons wurden er und seine Kameraden gen Osten transportiert. „Wenn ihr das von euch zerstörte Land wieder aufgebaut habt, dürft ihr nach Hause“, lautete die Ansage der Russen.
Obwohl er während des Krieges nie auf russischem Boden kämpfte, verbrachte er vier harte Jahre in verschiedenen Gefangenenlagern. Er schuftete bei Minus 30 Grad in Wäldern, karrte Schutt aus zerbombten Städten und malochte in Steinbrüchen. Im Dezember 1949 ließen ihn die Sowjets frei. Mit einem Bahntransport traf er am 19. Dezember im Lager Gronenfelde ein.
Herzklopfen bei der Heimkehr
„Fast alle Kameraden nutzten die Chance, unter Angabe einer falschen Heimatadresse, zur Flucht in den Westteil Deutschlands. Doch ich wollte einfach nur zu meiner Familie in Hainichen“, erinnert er sich. Nach dem Erhalt eines Bahntickets für die Heimfahrt, machte er sich mit einem Mitstreiter auf den Weg. Im Zug ging es über Leipzig und Chemnitz in Richtung Heimat. Im Morgengrauen des 20. Dezember 1949 marschierte er direkt vom Bahnhof zum Haus des Großvaters seiner Frau Hilde. Hier bewohnte sie seit einigen Monaten, gemeinsam mit der vierjährigen Tochter Brigitte, eine Wohnung im Dachgeschoss.
Hunderte Mal spielte er in der Gefangenschaft diesen Moment durch. Doch beim Öffnen der angelehnten Haustür schlug ihm das Herz bis zum Hals. Würde er die richtigen Worte finden? Seit neun Jahren waren sie ein Paar. Der Hauptkontakt fand über Postkarten statt. Gelegenheit zum Kennenlernen gab es höchstens im Rahmen spärlich gesäter Fronturlaubstage. „Sachte klopfte ich an“, erinnert sich Gerhard Kempe. Seine Augen leuchten dabei. „Mit einem Knarren ging die Tür auf, und ehe ich mich versah, hielt ich meine Liebste in den Armen. Die Aufregung verflog und wir redeten und redeten ...“
Steinige Rückkehr
Nicht für jeden Rückkehrer sah das Schicksal ein Happy End vor. Viele Heimkehrer erfuhren bei der Ankunft vom Verlust der Familie und des Zuhauses. Einige Frauen wähnten ihre Männer fälschlicherweise gefallen und lebten bereits in neuen Beziehungen.
Doch auch für Soldaten, welche in den Kreis der Lieben zurückkehrten, gestaltete sich der Neuanfang steinig. Ein Großteil litt unter den Folgen der Gefangenschaft. Andere kamen mit der geänderten Lebenssituation nicht zurecht. Während ihrer mehrjährigen Abwesenheit, verschwamm die traditionelle Rollenverteilung in den Familien. Die Frauen meisterten die Herausforderungen des Alltags selbstständig. Ebenso gestalteten sich die Vater-Kind-Beziehungen häufig schwierig. Der ideologische Wandel im Vergleich zur eigenen Kindheit war enorm.
Auch Gerhard Kempe kämpfte mit Startschwierigkeiten. Im Selbstverständnis der damaligen DDR galt er als Kriegsverbrecher. Über die harte Zeit der Gefangenschaft durfte er öffentlich kein Wort verlieren, um die sowjettreuen Machthaber nicht zu brüskieren. Nachts litt er unter Schweißausbrüchen und wurde von Albträumen geplagt.
Umzug nach Riedlingen
Doch er nahm sein Schicksal an. Mit Hilfe ehemaliger Kollegen fand er eine Anstellung als Weber in seinem einstigen Lehrbetrieb. Er erwarb den Meistertitel und Sohn Manfred kam zur Welt. 1956 kehrte er der DDR den Rücken und zog mit Frau und Kinder ins fränkische Wirsberg. 1964 trat er eine Stelle, als leitender Mitarbeiter, der damaligen Möbelstoffweberei Bauer in Riedlingen an. Über 30 Jahre blieb er dem Unternehmen treu.
„Ich mag es, mich den Herausforderungen des Lebens zu stellen“, merkt er zum Abschluss an. „Dies erleichterte mir manch schwere Stunde und hilft mir im Alter vital zu bleiben.“