Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Vom umjubelten Erlöser der SPD zum „Verlierer des Jahres“
67 Prozent der Deutschen sehen in einer Umfrage Parteichef Martin Schulz als den am deutlichsten gescheiterten Politiker
BERLIN - Kaum hatte Sigmar Gabriel im vergangenen Januar Martin Schulz die Kanzlerkandidatur vermacht, war der neue Hoffnungsträger gewaltig durchgestartet. Videos des „Schulz-Zuges“wurden zum YouTube-Hit, Fotomontagen zeigten ihn als Messias. „Mein Gott, Schulz!“, titelte die Wochenzeitung „Die Zeit“, der Höhenflug schien nicht zu stoppen. Elf Monate später ist Martin Schulz vom Erlöser der SPD zum „Verlierer des Jahres“abgestürzt.
Das brutale Ergebnis der am Donnerstag veröffentlichten Umfrage: 67 Prozent der Deutschen sehen ihn als den am deutlichsten gescheiterten Politiker. Selbst unter den Sozialdemokraten ist fast die Hälfte dieser Ansicht. Da mag es wenig trösten, dass CSU-Chef Horst Seehofer und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) – mit deutlichem Abstand – auf den Plätzen zwei und drei folgen.
Die krachend verlorene Bundestagswahl, das taktische Desaster mit der kassierten GroKo-Absage, Querschüsse aus den eigenen Reihen, der Vorwurf der Führungsschwäche: Für Martin Schulz geht ein Seuchenjahr zu Ende. Und ob 2018 für den 62-Jährigen besser läuft, ist fraglich.
Seit einer Woche ist der SPD-Chef abgetaucht, brütet daheim in Würselen über seiner Agenda für die schwarz-roten Sondierungen. Keine Zeit zum Durchschnaufen, stattdessen Schwerstarbeit an den sozialdemokratischen Kernanliegen, die er gegen CDU und CSU durchboxen muss, um eine Chance zu haben, die vielen GroKo-Gegner unter den Genossen von den Bäumen zu holen, die er mit seinem Schlingerkurs in Rage versetzt hat. Nicht dabei im Sondierungsteam: Bundesaußenmi- nister Gabriel. Er hatte 2013 den Koalitionsvertrag ausgehandelt. Jetzt ist Gabriel befreit von der Last, die Schulz schwer auf den Schultern liegt. Gabriel nutzt seine Freiheit, um ein Ideenfeuerwerk abzubrennen und Schulz mächtig vor sich herzutreiben. Gastbeiträge, Interviews, TV-Auftritte, ein Truppenbesuch in Afghanistan: Gabriel auf allen Kanälen, er setzt inhaltliche Akzente, ja, stellt der Kanzlerin Bedingungen für die Koalition – als wäre er noch der Parteichef.
Kontrahenten in Stellung
Die Aussicht, seinen Ministerposten in der GroKo zu behalten, oder womöglich das Finanzressort zu übernehmen, hat Gabriel aufblühen lassen. Seine Botschaft an Schulz: Ich kann es besser! Dass Gabriel nach der Wahlschlappe 2013 die Aufarbeitung selbst versäumte und der Partei zu keinem Selbstvertrauen verhelfen konnte, gerät dabei in Vergessenheit.
Schulz’ Verlierer-Image, Gabriels One-Man-Show: Für die Genossen kommt die Rivalität der einstigen Freunde zur Unzeit. NRW-Landeschef Michael Groschek und Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel sahen sich genötigt, Gabriel zu rüffeln und Schulz den Rücken zu stärken. Doch hinter vorgehaltener Hand hegen auch Spitzengenossen Zweifel an Schulz’ Führungsqualitäten. Von Fraktionschefin Andrea Nahles bis zu Hamburgs Regierendem Bürgermeister Olaf Scholz – die Kontrahenten bringen sich in Stellung.
Der Ausgang der Sondierungen, vor allem das Votum der Parteibasis über einen Koalitionsvertrag, bestimmen Schulz‘ politisches Schicksal. Kann er trotz der miesen Stimmung die Partei hinter sich vereinen und die GroKo glaubhaft als Chance verkaufen, um das verloren gegangene Wählervertrauen zurückzuerobern, liegt es in seiner Macht, ob Gabriel weiter als Minister glänzen kann. Scheitert Schulz und es kommt zu Neuwahlen, dürften seine Tage als Parteichef gezählt sein – und die SPD stünde vor der Zerreißprobe.