Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die Angst wächst
Ulmer Rabbiner befürchtet, dass Antisemitismus zunehmen wird – Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
RAVENSBURG/ULM - Elektronische Augen beobachten jeden Winkel. Die Kameras filmen die Straßen um die Neue Synagoge im Herzen Ulms, als handle es sich dabei um einen Hochsicherheitstrakt, und nicht um ein Gotteshaus, in dem sich Gemeindemitglieder zum Beten treffen.
Diese Kameras sagen viel aus. Sie zeugen von der Schutzbedürftigkeit jüdischer Einrichtungen, die für einige Menschen Hassobjekt sind. Und davon, dass der Antisemitismus auch in Deutschland nie ganz weg war – sondern sich wieder festigt.
Shneur Trebnik empfängt im Inneren der Synagoge. Besucher müssen sich anmelden. „Die Überwachung war nicht unser Wunsch“, erzählt der Rabbiner. „Das Innenministerium hat uns dazu geraten.“
Warum, zeigt eine zerbrochene Steinplatte an der Außenfassade. Im Sommer 2017 hat ein Unbekannter die Wand traktiert. In der einen Nacht mit einem Metallpoller, einige Nächte später mit Tritten. Die Polizei geht davon aus, dass es sich in beiden Fällen um denselben Verdächtigen handelt – und dass er antisemitische Motive hatte. Der Staatsschutz ermittelt.
Dieser Fall ist einer von 71 antisemitischen Straftaten, die die badenwürttembergischen Behörden im vergangenen Jahr bis zum 30. September gezählt haben. 2014 sind es im Südwesten 166 gewesen. Im Bund und in Bayern haben die Fälle hingegen zugenommen. Im ersten Halbjahr 2017 ist die Zahl antisemitischer Delikte erstmals seit zwei Jahren angestiegen. Von Januar bis April waren es in Deutschland 681, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sind das 27 Delikte mehr. In Bayern waren es im Jahr 2016 insgesamt 176 Delikte (2015: 132).
„Zunehmende Einzelfälle“
„Wenn ich die kompletten 18 Jahre zurückdenke, befürchte ich, dass es zugenommen hat“, sagt Shneur Trebnik, der in Israel geboren ist und vor 18 Jahren nach Deutschland gekommen ist. Auch er selbst wurde Opfer antisemitischer Provokationen. „Ich war auf dem Weg nach Hause, als ein Mann mich gefragt hat, warum ich wie ein Rabbiner bekleidet herumlaufe“, erinnert sich der 42-Jährige, den die Kippa, der schwarze Hut und der dunkle Anzug als gläubigen Juden ausweisen. „Er sagte, ich würde ihn als Deutschen provozieren.“
Es seien „zunehmende Einzelfälle“, sagt Trebnik. Viele der jüngeren Gemeindemitglieder würden sich in den Schulen nicht als Juden zu erkennen geben. Die große Mehrheit der Ulmer sehen laut Trebnik das jüdische Leben in ihrer Stadt zwar positiv oder neutral, und nicht „anti“. „Aber das ,Anti’ nimmt leider zu.“Den Großteil der antisemitischen Straftaten begehen Rechte, zeigen die Statistiken. „Allerdings haben wir Rückmeldungen aus der jüdischen Gemeinde, dass antisemitisches Gedankengut unter Geflüchteten stark verbreitet sei“, heißt es aus dem baden-württembergischen Innenministerium. Menschen aus Nahost und Nordafrika würden die Ablehnung für Israel mit in ihre neue Heimat tragen. Als US-Präsident Donald Trump die Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem angekündigt hatte, brannten in Deutschland Israel-Flaggen. In Berlin skandierten Demonstranten antisemitische Sprechchöre. In München wurde eine Pro-Israel-Gruppe attackiert. Den Hass auf Juden dürfe man aber nicht ausschließlich oder vorrangig bei Zuwanderern und Muslimen verorten, sagt die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) am Freitag zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“an der Ulmer Synagoge. Man müsse dem Antisemitismus entgegentreten, der „tief in der Gesellschaft verankert“sei.
Das zeigt sich auch in der deutschen Politik, in der der offene Antisemitismus wächst. Der baden-württembergische Landtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon darf in der AfDFraktion bleiben, obwohl er als Holocaust-Leugner gilt. Auch bei den Linken gibt es Antisemitismus. Der Reformerflügel der Partei verfasste 2014 den Aufruf „Ihr sprecht nicht für uns!“. Darin heißt es, einige Mitglieder „in verantwortlichen Positionen“würden „durch Schürung obsessiven Hasses auf und der Dämonisierung von Israel antisemitische Argumentationsmuster und eine Relativierung des Holocaust“befördern. Die Linke hat sich kürzlich als einzige Partei bei einer Bundestagsentscheidung zur Einsetzung eines Antisemitismus-Beauftragten enthalten.
„Das hat sehr viel mit der politischen Lage in Nahost und in Israel zu tun“, erklärt Trebnik. Hinter IsraelKritik verberge sich oft – nicht immer – Antisemitismus. Menschen würden dabei nicht zwischen Israel, Juden und den jüdischen Gemeinden unterscheiden. „Da wird alles in einen Topf reingeworfen. Menschen fragen dabei nicht, ob es auch etwas Gutes oder eine andere Seite der Medaille gibt.“
Trebnik wünscht sich mehr konstruktive Fragen, auch kritische. „Solange Menschen aber ausschließlich kritisieren, wird es Vorurteile geben.“
Und die Kameras wohl bleiben.