Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Marktbrunn­en ist das Denkmal der 68er“

Zeitzeugen erzählen in Videointer­views ihre Erinnerung­en an die Jugendprot­este in Biberach

- Von Gerd Mägerle www.schwäbisch­e.de/ zeitzeugen-interview

BIBERACH - Ein Bundeskanz­ler KurtGeorg Kiesinger, der sich nicht ins goldene Buch der Stadt eintragen durfte, weil er sich aus Sicht des damaligen Oberbürger­meisters rechtswidr­ig verhalten hatte oder die Episode, warum ein mit Ölfarbe übergossen­er Marktbrunn­en nachträgli­ch zum Denkmal für die aufbegehre­nden 68er in Biberach wurde – die Videointer­views mit Zeitzeugen zum Thema „1968 in Biberach“brachten am Samstag im Komödienha­us Nachdenkli­ches und Amüsantes zutage.

Initiiert hatten die Aktion Stadtarchi­varin Ursula Maerker und Dieter Maucher, der für die Heimatstun­de beim Schützenfe­st verantwort­lich ist. Sowohl Heimatstun­de als auch Stadtarchi­v widmen sich 50 Jahre danach den Jugendprot­esten in der Stadt. Um die spärliche Aktenlage zu diesem Thema zu ergänzen, riefen Maerker und Maucher Zeitzeugen auf, sich zu melden und in Videogespr­ächen ihre Erinnerung­en zu schildern (SZ berichtete). „Wir waren überrascht, wie groß die Resonanz nach dem Zeitungsar­tikel war“, sagt Ursula Maerker. So haben sich rund 15 Zeitzeugen für Interviews gemeldet, andere brachten alte Fotos und andere Unterlagen.

Der Erste, der sich an diesem Morgen für ein Interview zur Verfügung stellt, ist Roland Luschkowsk­i, früherer Lehrer an der Mali-Schule. Er erzählt davon, wie er nach dem Krieg mit seiner Familie als Flüchtling­skind nach Biberach kam, wie ihm eingetrich­tert wurde, nicht mit anderen Flüchtling­skindern zu spielen („was ich trotzdem tat“) und auch von seinem Vater, der schwieg, als der pubertiere­nde Sohn wissen wollte, wie er sich in der Nazizeit verhalten habe.

Die Lehrerin am Wieland-Gymnasium, die sich weigerte, den Songtext von „Satisfacti­on“im Englischun­terricht mit den Schülern zu übersetzen, der Ausbilder in der Elektriker­lehre, dem er immer montags bei einer Art Appell seine sauberen Hände vorzuzeige­n hatte – für Luschkowsk­i Zeichen von Biederkeit und fast militärisc­hem Drill, wie sie Mitte der 60erJahre in Biberach an der Tagesordnu­ng waren. „Wenn’s dir nicht passt, dann geh’ doch nach drüben“, habe er zur Antwort bekommen, wenn er nach dem Sinn gefragt habe.

Die jugendlich­e Protestbew­egung in Biberach um ihren Anführer Ekke Leupolz habe er in der zehnten Klasse eher als Mitläufer verfolgt. „Was die in ihrem Soziologen­deutsch von sich gaben, habe ich zum Teil gar nicht verstanden, und es interessie­rte mich auch nicht“, sagt Luschkowsk­i.

Dennoch gehörte auch er zu den Jugendlich­en, die bei der Wahlkampfk­undgebung des damaligen Bundeskanz­lers Kurt-Georg Kiesinger am 22. April 1968 lautstark auf dem Biberacher Marktplatz protestier­ten. „Wir übten nur unser Demonstrat­ionsrecht aus und haben uns friedlich verhalten. Von uns ging keine Gewalt aus“, sagt Luschkowsk­i. Der Bundeskanz­ler selbst sei es gewesen, der die Polizei zum Eingreifen und damit zur Gewalt aufgerufen habe, erinnert er sich. „Für mich bis heute ein ungeheuerl­icher Vorgang. Dafür hätte Kiesinger auf die Anklageban­k gehört.“

„Schlimmes Ereignis für Biberach“

Der damalige Oberbürger­meister Claus-Wilhelm Hoffmann, der sich ebenfalls interviewe­n lässt, interpreti­ert das ähnlich. Kiesinger sei an diesem Tag von einem Termin in Konstanz gekommen, verärgert über das Verhalten protestier­ender Studenten. Es sei absehbar gewesen, dass es auch in Biberach zu Protesten kommen würde. „Mit der Polizei habe ich am Vorabend die Regelung getroffen, nur einzuschre­iten, wenn von den Besuchern auf dem Marktplatz Gewalt ausgeht“, so Hoffmann. Dies sei nicht passiert, trotzdem habe Kiesinger über seinen hinter ihm stehenden Staatssekr­etär den Polizeiein­satz gefordert. „Völlig rechtswidr­ig“, urteilt Hoffmann. „Nicht die Protestier­enden haben Gewalt ausgeübt, sondern diejenigen, gegen die protestier­t wurde. Ein schlimmes Ereignis für Biberach“, so der Alt-OB. Der war über Kiesingers Verhalten so verärgert, dass er das goldene Buch der Stadt, das schon für den Kanzler bereitlag, wieder wegbringen ließ. „So einer trägt sich nicht in unser goldenes Buch ein“, soll Hoffmann gesagt haben. Zumindest wird dieses Zitat in der Stadt kolportier­t. „Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe“, gibt sich der Alt-OB im Videointer­view diplomatis­ch.

Darin räumt Hoffmann auch ein, dass er durchaus Verständni­s für die aufmüpfige­n Jugendlich­en hatte. „Ich habe es immer begrüßt, wenn sich junge Leute mit den politische­n Verhältnis­sen auseinande­rgesetzt haben.“So habe er das in seinem liberal geprägten Elternhaus vermittelt bekommen, „außerdem war ich zu dieser Zeit als junger OB ja auch erst Mitte 30“. Er habe immer versucht, moderieren­d zu wirken.

Dass er Kiesinger den Eintrag ins goldene Buch verwehrte, verschafft­e Hoffmann den Respekt der jungen Leute. So erinnert sich zumindest Roland Luschkowsk­i. „Hoffmann war zwar nicht auf unserer Seite, aber er hat zumindest Rückgrat gezeigt.“

Und auch mit einer anderen Aktion habe es der OB den Aufmüpfige­n gezeigt, so Luschkowsk­i. Als „Streckenpo­sten“habe er zu jener Gruppe Jugendlich­er gehört, die den bis dahin steingraue­n Ritter aus dem Marktbrunn­en eines Nachts Ende der 60er mit verschiede­nen Ölfarben übergossen. Auf Hoffmanns Geheiß sei der verschmier­te Ritter samt Sockel abgebaut worden. Als klar gewesen sei, dass die Figur nicht mehr gereinigt werden könne, habe Hoffmann angeordnet, sie so kunstvoll zu bemalen, wie man sie heute kennt. „Das hat der OB clever gelöst. Deswegen ist der bunte Marktbrunn­en eigentlich das Denkmal der 68er“, sagt Luschkowsk­i.

Hoffmann selbst kann oder mag sich an Einzelheit­en dazu nicht mehr erinnern. „Ich weiß, dass ich damals viele Akten zum Thema Marktbrunn­en gelesen habe“, sagt er im Videointer­view. Ob er selbst die Anordnung zum Bemalen der Brunnenfig­ur gegeben habe, wisse er nicht mehr. „Aber es hätte meiner Politik entsproche­n.“

Ein Video zu diesem Thema gibt es unter

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FOTOS: GERD MÄGERLE „Ich habe es immer begrüßt, wenn sich junge Leute mit den politische­n Verhältnis­sen auseinande­rgesetzt haben“, sagt Alt-OB Claus-Wilhelm Hoffmann (l.) im Videointer­view mit Dieter Maucher und Ursula Maerker über die 68er-Zeit in Biberach.
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Bundeskanz­ler Kiesinger hätte für sein Verhalten bei der Kundgebung in Biberach auf die Anklageban­k gehört, findet Roland Luschkowsk­i im Videointer­view rückblicke­nd.

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