Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Auszug aus dem Asbest-Palast
Unterhaus-Abgeordnete votieren für eine Totalrenovierung ihres Parlamentsgebäudes
LONDON - Der Abend versprach so amüsant wie instruktiv zu werden. Auf Einladung des Instituts für Regierungsstudien (IfG) berichteten die Ministerveteranen Kenneth Clarke und Jack Straw am Mittwoch über ihre Zeiten im Finanz-, Innen- und Außenressort. Gerade tönte wieder Gelächter durch die Repräsentationsräume des Parlamentspräsidenten Speaker, als plötzlich der Strom ausfiel und die vergnügte Zuhörerschaft im Dunkeln saß. Tatsächlich ein instruktiver Abend: Das Parlamentsgebäude, der weltweit bekannte Palast von Westminster, pfeift aus dem letzten Loch.
Über die Zukunft ihrer Heimstatt debattierten zur gleichen Zeit die Abgeordneten des Unterhauses. Am Ende zeigten sie kaum für möglich gehaltene Entschlussfreude: Mit 236:220 Stimmen votierten die Volksvertreter parteiübergreifend für ihren Auszug und die Totalrenovierung des neugotischen Prunkstücks. Die Beschlussvorlage der schlingernden Regierung von Premierministerin Theresa May hatte vorgesehen, das seit Jahren diskutierte Problem erneut zu vertagen. Nichts da, fanden einflussreiche Parlamentarier unter Führung von Meg Hillier, der Chefin des mächtigen Rechnungsprüfungsausschusses: „Wir können der Entscheidung nicht weiter ausweichen.“
Eine Bauruine
Kein Zweifel: Der neugotische Riegel aus honigfarbenem Kalkstein gehört nicht nur zum Unesco-Welterbe, er ist auch eine Bauruine – teils 80 Jahre alte Elektro- und Gasleitungen im Keller, marode Wasserrohre, Asbest überall. Tausende von Bediensteten sorgen für Wohlergehen und Sicherheit der 650 UnterhausAbgeordneten und derzeit 793 Lords und Ladies im Oberhaus sowie ihrer jährlich rund eine Million Besucher. 30 Fachleute gehören allein zur Feuerwache, die Brandschutz-Spezialisten patrouillieren rund um die Uhr durch die Katakomben des Palastes. Dort liegen eine Gasleitung, wenige Zentimeter davon entfernt ein Elektrokabel unter Hochspannung sowie eine gewaltige Dampfleitung direkt nebeneinander. Trotz massiver Isolation lässt letztere sich kaum anfassen, und einen Zwischenfall möchte man sich nicht unbedingt ausmalen. „Da steckt genug Energie drin, um menschliche Knochen zu durchdringen“, sagt Bauingenieur Andrew Piper.
In den vergangenen zehn Jahren, teilte die fürs Gesetzgebungsprogramm der Regierung zuständige Ministerin („Führerin des Unterhauses“) Andrea Leadsom am Mittwoch mit, habe es 60 Zwischenfälle gegeben, die zu einem größeren Feuer hätten führen können. „Die Wahrscheinlichkeit eines ernsten Betriebsausfalls wächst.“
Die Gesamtrenovierung wird mehreren Gutachten zufolge umgerechnet mindestens 4,45 Milliarden Euro kosten und die Parlamentarier dazu zwingen, sich für sechs Jahre eine andere Bleibe zu suchen. Die Summe und der Zeitraum bot den Gegnern der Radikallösung Angriffsfläche. Einer von Hilliers Vorgängern, der Konservative Edward Leigh, mag den Experten nicht glauben: Es werde erstens teurer werden und zweitens länger dauern. „Ich sage voraus, dass wir zehn bis zwölf Jahre wegbleiben müssen.“Freilich stellt die von Leigh und Gesinnungskollegen angestrebte Lösung, nämlich dauernde Renovierung während des laufenden Betriebes, gewiss keine Kostendämpfung dar: Dann wären über 32 Jahre hinweg mehr als acht Milliarden Euro fällig.
Ohnehin „kommen wir mit den Renovierungen nicht nach“, sagt Piper. Schon vor sechs Jahren kam ein Expertengremium zu dem verheerenden Schluss: „Wäre der Palast nicht von höchster Bedeutung als nationales Kulturerbe, würde man dem Besitzer den Abbruch und Wiederaufbau des Gebäudes nahelegen.“
Stattdessen kommt es zu einer gründlichen Sanierung. Was es alles zu tun gibt, hat eine 250 Seiten starke Studie nüchtern aufgelistet. Die Details reichen von den teils 80 Jahre alten Leitungen im Keller bis zu den erneuerungsbedürftigen rund 4000 antiken Fenstern. Eine moderne Heizungsanlage soll her, allerorten müssen Frisch- und Abwasserleitungen neu verlegt werden, damit der Urin aus darüberliegenden Toiletten zukünftig nicht mehr Abgeordneten auf den Tisch regnet, wie es der Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw zweimal erlebt hat.
Als Ausweichquartier steht das Gesundheitsministerium Themseabwärts zur Verfügung, aus Sicherheitsgründen müssen zwei danebenliegende Pubs in die Parlamentszone eingebunden werden. Ab 2025, so sehen es die Pläne vor, können dort die Traditionalisten während der sechsjährigen Bauphase ihren Erinnerungen an den alten Palast nachhängen.