Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Wir wehrten uns gegen alles“
Erinnerungen an die 68er-Zeit – Was war vor 50 Jahren ?
- Das Ambiente stimmte. Im „Pflug“in Riedlingen kam der sogenannte „Power Play Stammtisch“zusammen. Zwar anders als damals, in den 60er- und 70er-Jahren, als die Gaststätte bei der Jugend als „Hotspot“galt. In dieser Umgebung fiel es der Runde leicht, Erinnerungen an die 68er, auch an die Zeit davor hervorzukramen. Was war in Riedlingen los vor 50 Jahren?
Uli Grosser, Armin Schmid, Susanne Kliebhan, Carola Perwein und Toni Stützle sind ein Teil der Fans, die sich am Revival „40 Jahre Power Play“wieder trafen, die „Power Play“waren damals eine sehr beliebte Band. Daraus entstand eine Wandergruppe. „Wir zogen dann aber den Stammtisch vor, Wandern war einigen zu anstrengend“, sagt Armin Schmid lachend. Die Fünf erinnern sich noch gut, waren die 68-er Jahre doch „die“Zeit, die geprägt hat.
Der Abend im Pflug entwickelte sich zu einer Erinnerungsschatzkiste, es wurde viel gelacht. Eine Anekdote reihte sich an die andere, am Ende hat die Runde ein kleines Riedlinger Stimmungsbild gezeichnet. Susanne Kliebhan: „Wir als Nachkriegsgeneration wehrten uns gegen alles und lehnten uns auf, waren kleine Revoluzzer. Auf keinen Fall wollten wir so sein wie unsere Eltern.“Das fing bei der Kleidung an. Und die Jungs ließen sich die Haare wachsen. Dadurch wurden sie zu Gammlern – ein Wort, das aus unserem Wortschatz verschwunden ist.
Ihr Bruder Robert musste nachts im Schlaf die Haare lassen, als die Mutter rigoros zur Schere griff: „Mutti, du hättest Friseuse werden sollen“, lautete sein Kommentar, als er morgens verwundert in den Spiegel blickte. Eine Jeans, es musste eine Levis sein, war das Nonplusultra, das Statussymbol überhaupt. Sie habe als Ferienjob wochenlang in der Sägerei gearbeitet, um sich so eine Hose leisten zu können, sagt Susanne Kliebhan.
Die Jungs bekamen für denselben Job mehr Kohle. „Das hat mich als Revoluzzerin aufgeregt und ich habe mich sofort beschwert.“Damit die Levis knalleng saß, habe man sich“stundenlang“in die Badewanne gelegt. „Ein absolutes Lebensgefühl.“In der Schule mussten die Mädchen durchsetzen, in Hosen kommen zu dürfen. Noch früher, in der Riedlinger Grundschule seien Hosen für Mädchen erst gar nicht erlaubt gewesen.
„Make love not War“oder „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, das waren Parolen die jeder kannte. In der Schule sei jedoch Händchen halten verboten gewesen. Susanne Kliebhan kassierte vom brüllenden Rektor einen Verweis: „Hören Sie sofort damit auf, Sie zerstören den Ruf der Schule!“
Carola Perwein war zu dieser Zeit schon verheiratet, erinnert sich aber an die Jahre davor. Sie war Klassenkameradin des heutigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann: „Ich setzte mich so hin, dass er meinen Petticoat sehen konnte.“Uli Grosser denkt an Rektoratsarrest am Gymnasium, 36 Einträge im Tagebuch im Halbjahr, seien nicht ungewöhnlich für ihn gewesen. Auch Armin Schmid war ein „Kandidat“: „Schmid meldet sich nach einem dreiviertel Jahr zum ersten Mal.“
Ohne Ausweis durfte man nicht in den berühmten Aufklärungsfilm von Oswald Kolle. Obwohl sie schon 18 war, flog Susanne Kliebhan mit ihrem Freund aus dem Riedlinger Kino. Nackte Frauen im Film gab es nie zu sehen. In einem Film über den Dschungel zeigte jedoch eine schwarze Frau ihre Brüste, erzählt Uli Grosser: „Da war es dann wohl egal, da durften wir rein.“
Stockrundenfahren, auch auf den „Seitenbrettern“des VW mitzukurven oder sich im „Misse“zu treffen, damals ein attraktiver Rückzugsort für Pärchen und heimliche Raucher, das gehörte zum Alltag der Riedlinger Jugend. Wer erinnert sich nicht an die legendäre Raucherecke hinter dem „Kappellele“am alten Gymnasium? Wilde Partys, wenn Eltern ahnungslos im Urlaub weilten, ganze Häuser wurden bevölkert und teilweise auch verwüstet. Endlich konnte man in voller Lautstärke die von den Eltern gehasste „Negermusik“hören.
Am Sonntagnachmittag war einmal im Monat Tanz mit Live-Musik der „Power Play“im dubiosen Night Club, dem „Grünen Baum“. Toni Stützle erzählt, er sei im Winterpulli gegangen, damit seine Eltern keinen Verdacht schöpften. Der „BaumSepp“wollte aber Anzugträger und sagte ausgerechnet zu seinem Vater: „Dein Sohn soll mal seinen Pulli daheim lassen.“ÜBRIGENS
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