Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Shabby Chic – Ist das Schäbige wirklich schick?
Eins sei vorausgeschickt: Ich bewundere den Purismus. Elegante Freunde leben zwischen leeren, nur punktuell von Kunst markierten Wänden. Oberflächen müssen makellos sein. Wenn der White Cube, den sie Wohnzimmer nennen, eine Macke aufweist, wird nachgeweißelt. Kein Sprung in der Fliese wird geduldet. Diese Perfektion ist toll. Aber nichts für mich. Aus rätselhaften inneren Gründen mag ich das Abgeschrammte. Zugleich habe ich eine Aversion gegen Trödel, der muffig riecht und wer weiß wem gehört hat. Die Lösung: Man lässt etwas Neues alt aussehen. Shabby Chic.
Als wir in eine penetrant frische Doppelhaushälfte zogen, ließ ich die Wände schön ungleichmäßig wischen. Die Bilderhängung erfolgte in Versuchsreihen, die Löcher und Risse wie im alten Pompeji hinterließen. Eine moderne Holzküche haben wir zunächst lackiert und dann wieder abgeschmirgelt. Sah aus, als hätten schon Generationen da gekocht.
Inzwischen leben wir in einem Altbau, dem der Shabby Chic innewohnt. Die Türen müssten gestrichen werden, aber ihr angeschlagener Look passt gut zu unserem charmant verkratzten Esstisch und zum nostalgischen Apothekerschrank, der zum Glück nie in einer Apotheke stand, sondern in einem Möbelgeschäft, das mich versteht.
Verrückte Welt! Es stößt noch auf ein gewisses Maß an Verständnis, wenn sich Herrschaften mit entsprechend großem Geldbeutel echte Antiquitäten anschaffen. Aber wie widersprüchlich ist es denn, sich einerseits Anti-AgingCreme ins Gesicht zu schmieren, um die Falten zu glätten, und andererseits Geld für Dinge auszugeben, an denen der Lack abblättert? Shabby Chic nennt sich das dann und meint neue Möbel und Wohnaccessoires, denen mit der Kratzbürste altes Leben eingehaucht wurde.
Sprich: Während der Mensch versucht, dem Alterungsprozess des eigenen Körpers so gut wie möglich entgegenzuwirken, verpasst er seinen Möbeln Macken und erfindet das Alte neu. Doch was ist so toll an Zerschlissenem und Zerkratztem, Verwittertem und Verblichenem, an verrosteten Beschlägen und halbblinden Spiegeln? Okay, in der Regel neige ich dazu, in allem das Beste zu sehen. Dementsprechend finde ich es natürlich super, dass man jetzt besten Gewissens seinen Sperrmüll als Designerware deklarieren und sein abgeschabtes Ledersofa noch einige Jahre lang als trendiges Shabby-Chic-Stück präsentieren kann. Wenn allerdings zerkratzte Tische, durchgesessene Sessel und löchrige Teppiche zu Liebhaberpreisen über den Ladentisch gehen, ist das tatsächlich – schäbig.
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Von Simone Haefele