Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Regierung möchte Fahrverbote abwenden
Geteiltes Echo auf Leipziger Dieselurteil – Kretschmann fordert erneut blaue Plakette
LEIPZIG/BERLIN/STUTTGART - Selten hat eine Gerichtsentscheidung so gespaltene Reaktionen ausgelöst wie der Spruch des Bundesverwaltungsgerichts vom Dienstag. Die Richter in Leipzig hatten Fahrverbote in Städten für grundsätzlich zulässig erklärt, aber betont, diese müssten verhältnismäßig sein und Übergangsfristen und Ausnahmeregelungen umfassen. Die Bundesregierung erklärte, sie wolle Verbote noch vermeiden. Scharfe Kritik kam von Wirtschaftsverbänden sowie Politikern von Union und FDP. Sie fürchten Belastungen für die Wirtschaft. Die Polizei warnte vor Schwierigkeiten bei den Kontrollen der Fahrverbote. Vertreter von Umweltverbänden, Linkspartei und Grünen begrüßten die Entscheidung.
Der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), Jürgen Resch, sprach nach dem Urteil von einem „ganz großen Tag für saubere Luft in Deutschland“. Nun sei die Autoindustrie in der Pflicht, durch Nachrüstungen an den Fahrzeugen für bessere Luft zu sorgen. Die DUH hatte den Fall mit einer Klage in mehreren Städten, darunter Stuttgart, ins Rollen gebracht.
Bei Wirtschaftsverbänden löste der Richterspruch Besorgnis aus. Der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer, kritisierte Fahrverbote als „massive Eingriffe in Eigentumsrechte, in die Mobilität und in die Freiheit beruflicher Betätigung“. Die Unternehmensberatung Ernst & Young erklärte, die Verluste für die mehr als zehn Millionen Dieselbesitzer gingen „in die Milliarden“.
Das Urteil dürfte für ganz Deutschland wichtig sein, auch wenn es konkret nur um Stuttgart und Düsseldorf geht. Für Stuttgart erklärten die Richter, dass Dieselautos der Norm Euro 5 frühestens ab September 2019 mit Fahrverboten belegt werden dürfen. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sagte am Dienstag, Fahrverbote seien in Stuttgart schwierig umzusetzen, weil im Talkessel extrem viele Arbeitsplätze angesiedelt seien. Erste Beschränkungen für die älteren Autos bis zur Abgasnorm Euro 4 seien aber noch 2018 denkbar, für jüngere Dieselautos bis Ende 2019.
Das Land Baden-Württemberg will im Bund nun einen neuen Anlauf für die Einführung einer blauen Plakette starten. Das Land werde umgehend auf die Bundesregierung zugehen und die Einführung der Plakette anmahnen, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Diese sei unabdingbar, um einen kommunalen Flickenteppich bei Fahrverboten zu vermeiden und um eine effektive Kontrolle zu ermöglichen. „Nur mit einer bundesweit einheitlichen Regelung ist eine vernünftige Umsetzung des Gerichtsurteils machbar“, sagte Kretschmann. „Alles andere würde zu einem unverhältnismäßigen Verwaltungs- und Kontrollaufwand führen.“
Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) räumte ein: „Wenn es zu Fahrverboten käme, bräuchten wir Kennzeichnungen für diejenigen, die nicht unter die Fahrverbote fallen.“Fahrverbote seien jedoch das letzte Mittel. Es gelte, sie zu vermeiden. „Das ist auch machbar mit der Vielfalt der Maßnahmen, die wir vorgeschlagen haben“, betonte Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU). Bundeskanzlerin Angela Merkel rechnet derweil nur mit begrenzten Folgen des Urteils. „Es geht um einzelne Städte, in denen muss noch mehr gehandelt werden“, sagte die CDU-Vorsitzende. „Aber es geht wirklich nicht um die gesamte Fläche und alle Autobesitzer in Deutschland.“
BERLIN - Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat Dieselfahrverbote für grundsätzlich zulässig erklärt. Die Richter kamen zwar zu dem Ergebnis, dass das Bundesrecht weder zonen- noch streckenbezogene Fahrverbote für bestimmte Motorentypen zulässt. Wichtiger sei es aber, die internationalen Verpflichtungen zur Einhaltung von EU-Grenzwerten einzuhalten, so dass das nationale Recht hier nicht greife.
Mit der Entscheidung sind die vorangegangenen Urteile der Verwaltungsgerichte in Stuttgart und Düsseldorf rechtskräftig. Diese hatten entschieden, dass beide Städte ihre Luftreinhaltepläne verschärfen und auch Fahrverbote in Betracht ziehen müssten. Die Landesregierungen von Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen argumentierten dagegen, es brauche eine neue bundesweite Rechtsgrundlage.
Kommunen fürchten Schilderwald
Bis die ersten Diesel aber tatsächlich von Fahrverboten betroffen sind, dürfte es noch eine ganze Weile dauern. Für Stuttgart urteilte das Gericht, dass Fahrzeuge mit der Euro-5-Norm nicht vor dem 1. September 2019 mit Verkehrsverboten belegt werden dürfen. Grundsätzlich seien Fahrverbote nicht vor dem 1. September 2018 möglich. Doch die Dreckschleudern könnten auch noch deutlich länger in deutschen Innenstädten unterwegs sein. Es ist durchaus möglich, dass die Städte zunächst auf eine bundesweite Regelung warten und Fahrverbote erst dann umsetzen, wenn die Bundesregierung etwa eine blaue Plakette beschließt. Die Große Koalition lehnt diese Kennzeichnung bislang ab. Denn damit würden womöglich zehn Millionen Besitzer älterer Dieselmodelle vom Stadtverkehr ausgeschlossen. Die Kommunen befürchten auch einen Schilderwald, wenn sie einzelne Strecken für bestimmte Autos sperren müssten. Sollte es allerdings tatsächlich zu ersten Fahrverboten kommen, müsste der Bund wohl eine bundeseinheitliche Kennzeichnung einführen.
Zunächst dürften nur ältere Fahrzeuge von Fahrverboten betroffen sein. Außerdem soll es Ausnahmeregelungen etwa für Handwerker geben. Die Details überlässt das Gericht den Städten und Kommunen sowie den jeweiligen Bundesländern, die für die Luftreinhaltungspläne zuständig sind. Die Bundesregierung hofft allerdings auch nach dem Urteil noch, Fahrverbote abwenden zu können. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sagte nach dem Urteil, nun seien die Hersteller in der Pflicht. Mit technischen Nachrüstungen könnten sie Fahrverbote für viele Kunden verhindern. Die Nachrüstungen müssten aber auf Kosten der Konzerne erfolgen, forderte die Ministerin.
In dem Urteil ging es zwar nur um die Städte Düsseldorf und Stuttgart, aber nach dem Urteil könnte auch jede andere Stadt, in der die EU-Grenzwerte für Stickstoffoxide überschritten werden, Fahrverbote verhängen. Die ersten Städte, in denen Dieselfahrer mit teilweisen Fahrverboten rechnen müssen, sind neben Düsseldorf und Stuttgart München und Hamburg. In Hamburg gibt es schon konkrete Pläne im Luftreinhaltungsplan. Das Urteil hat zweifellos Signalwirkung für andere Kommunen, deren Luft zu stark mit Stickoxiden belastet ist – dazu zählen im Süden auch Augsburg, Reutlingen, Tübingen, Heilbronn, Schwäbisch Gmünd und Ravensburg.
Schon die Debatte um drohende Fahrverbote hat zu Verschiebungen auf dem Neuwagenmarkt geführt. Der Marktanteil von Dieselfahrzeugen in Deutschland schrumpfte in einem Jahr von 45 auf 33 Prozent. Dieselfahrzeuge verloren an Wert, das Image des Selbstzünders ist angekratzt. Dadurch ergibt sich ein anderes Problem: Die Hersteller drohen die Einhaltung ihrer Flottengrenzwerte für CO2 zu reißen. Denn Diesel stoßen zwar mehr Stickoxide aus als Benziner, setzen dafür aber weniger Kohlendioxid frei. Verfehlen die Konzerne durch einen schwächeren Absatz von Dieselfahrzeugen die CO2-Vorgaben der EU, drohen Milliardenstrafen.