Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Münchner Schildbürgerstreich
In Neuperlach schützt eine von sieben Anwohnern erstrittene „Flüchtlingsmauer“vor Lärm, den es gar nicht gibt
MÜNCHEN - Wenn die geflüchteten Frauen morgens in der Neuperlacher Nailastraße die türkisfarbenen Fensterläden öffnen, fällt ihr Blick auf eine Mauer. Vier Meter hoch, 80 Meter lang. In roten Buchstaben prangt darauf der Spruch: „Walls Create Strangers“– „Mauern schaffen Fremde“. Seit gut drei Monaten sind sie mit ihren Kindern hier untergebracht. Von der unrühmlichen Geschichte des Bauwerks, das ihr neues Zuhause von dem der Nachbarn trennt, wissen sie nichts.
Eigentlich war die Gabionenwand – so heißen die mit Steinen gefüllten Gitter, die man immer häufiger auch vor Privathäusern sieht – als Schallschutz vor dem Lärm kickender Asylbewerber gedacht. Erstritten von sieben Anwohnern, die um ihre Ruhe fürchteten. Als die Mauer vor der geplanten Unterkunft für junge Asylbewerber hochgezogen wurde, hatte das weltweit für Schlagzeilen über die angebliche Rassistenhochburg im Südosten Münchens gesorgt. Der Anti-Kicker-Wall steht immer noch. Nur: Die minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlinge zogen nie in die für sie geplante Unterkunft ein. Stattdessen stand der Neubau fast ein Jahr leer – allein der Sicherheitsdienst kostete 1630 Euro pro Monat.
„Es ist ein Trauerspiel, wie alles gelaufen ist“, sagt Walter Meyer vom Helferkreis Nailastraße. „Totale Ressourcenverschwendung“, urteilt die Perlacher Asylanwältin Ronja Corell. Einen Abriss der 200 000-Euro-Mauer zieht dennoch niemand ernsthaft in Erwägung. „Wir konzentrieren uns jetzt darauf, den Frauen mit ihren Kindern zu helfen und das Beste aus dem Bauwerk zu machen“, sagt Meyer. Doch wie wird aus einem Symbol der Abschottung ein Zeichen für Integration?
In erster Linie mit Pragmatismus. „Die Mauer ist und war nie nötig. Aber jetzt müssen wir mit ihr leben“, findet Katrin Bahr, Bereichsgeschäftsführerin von Condrobs. Der Verein betreibt das neue Heim für alleinerziehende und -stehende Flüchtlingsfrauen zusammen mit Pro Familia und der Frauenhilfe. Bahr gewinnt der Wand sogar einen positiven Aspekt ab: „Sie kann auch als Sichtschutz gesehen werden. So haben die Frauen mehr Privatsphäre.“Eine zumindest originelle Sichtweise.
Natürlich hatte Bahr anfangs Bedenken. Das Stadtviertel hatte seinen Ruf weg, nachdem das Bezirksausschussmitglied Guido Bucholtz von den Grünen ein Drohnenvideo von dem Wall veröffentlicht – und den Vergleich zur Berliner Mauer gezogen hatte.
Mehr als zwei Jahre lang hatte die Klage der Anwohner wegen Lärmbelästigung bereits die Inbetriebnahme des Heims verzögert. Mit der Mauer als Kompromiss sollte der Bau endlich vorankommen. Doch ihre Dimension erschütterte viele Bürger. Der Medienrummel und die darauf folgenden Hetzkampagnen sitzen den Beteiligten noch in den Knochen.
„Aber wir haben schnell gemerkt, dass hier kein Feindesland ist“, sagt Katrin Bahr. Im Advent gab es ein Kennenlernen, alle Kläger seien gekommen und hätten den Austausch gesucht. „Ich habe keine Ressentiments, keine Mauern in den Köpfen gespürt. Es war ihnen vielmehr wichtig, das Gegenteil zu vermitteln. Ich kann mir ein gutes, nachbarschaftliches Verhältnis vorstellen.“
Und wie wirkt das Bauwerk auf die Bewohnerinnen selbst? „Sie können Englisch lesen und wissen, was Rassismus ist. Aber sie hinterfragen die Sache nicht. Sie haben schlichtweg andere Probleme“, sagt Bahr. Viele der jungen Frauen, die meist aus Nigeria, Somalia, Uganda, Eritrea und Afghanistan stammen, sind traumatisiert. „Ohne männliche Beschützer waren sie auf der Flucht vor Zwangsheirat, Ehrenmord, Genitalverstümmelung oder Menschenhandel den Übergriffen von Männern hilflos ausgesetzt“, erklärt Bahr.
Zuvor waren die Frauen in einer ehemaligen Hausmeisterzentrale in der Rosenheimer Straße untergebracht – unter denkwürdig schlechten Bedingungen. Schwangere und Mütter mit Neugeborenen teilten sich zwei Schlafsäle.
In der Nailastraße sind die 14 Quadratmeter großen Zimmer maximal mit zwei Personen belegt. Der Eingang wird bewacht. Denn auch hier fürchten die Frauen noch den langen Arm der Familie, zu ihrem Schutz sind Fotos oder Interviews darum nicht erlaubt. „Die Frauen und Kinder fühlen sich sehr wohl. Für uns ist das ein Glücksfall“, sagt Bahr.
60 Plätze stehen zur Verfügung. Künftig sollen es bis zu 150 sein. Erst aber werden in den beiden anderen Gebäudekomplexen noch Wohnküchen eingebaut. Auch ein Spielplatz soll entstehen. Wann mehr Frauen aufgenommen werden können, kann Bahr nicht sagen: „So ein Verwaltungsakt ist sehr langwierig.“
Für Ronja Corell, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert, ein Unding – und bezeichnend für die gesamte Planung der Stadt. Sie hatte schon Anfang 2017 den Antrag gestellt, in der Nailastraße die Flüchtlingsfrauen unterzubringen. „Da war längst absehbar, dass weniger Minderjährige kommen. Hätte die Stadt schneller reagiert, hätte vielen Frauen deutlich früher geholfen werden können.“Denn auch in den Flüchtlingsunterkünften sind sie Corell zufolge in Gefahr – alleinstehende Frauen würden in vielen Kulturen als wertlos angesehen. Vom Sozialreferat bekam die Anwältin aber nur eine lapidare Absage. „Nach dem Motto: nette Idee, aber nicht umsetzbar.“
Bei der Stadt verfolgte man zu diesem Zeitpunkt weiterhin den Plan, Jugendliche unterzubringen. Im Juni war endlich ein Träger für ihre Betreuung gefunden, im Oktober sprang der einzige Bewerber wieder ab. Das wirtschaftliche Risiko sei angesichts der schwer zu prognostizierenden Ankunftszahlen von unbegleiteten Minderjährigen zu hoch gewesen, heißt es vonseiten des Sozialreferats.
Dass die Frauen Ende November doch einziehen konnten, freut Corell. Auch wenn sie davon nur durch die Medien erfahren habe. „Kommunikation mit uns Helfern findet vonseiten der Stadt nicht statt.“Aber auch jetzt sieht sie die Verantwortlichen weiter im Verzug. „Während man das Geld für die Mauer schnell lockergemacht hat, geht der Ausbau für die dringend benötigten Plätze nur schleppend voran.“
Auch Werner Meyer, der gemeinsam mit Guido Bucholtz vor zwei Jahren den Helferkreis vor Ort gegründet hat, fehlen beim Blick auf die Geschichte der Unterkünfte die Worte. „Es ist peinlich. Die Stadt hat total geschlafen.“Doch bei allem Frust: „Wir haben viele Ehrenamtliche wieder aktiviert und stehen in den Startlöchern“, sagt Meyer.
Und die Mauer? Corell hätte da eine Idee. „Es gibt da eine afghanische Sprayerin. Wenn sie mit dem Münchner Künstler Loomit ein Graffiti gestaltet, wäre das ein Zeichen der Versöhnung.“
„Es ist peinlich. Die Stadt hat total geschlafen.“Ronja Corell, in der Flüchtlingshilfe engagierte Münchner Anwältin