Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Bilder vom menschlich­en Abgrund

Vor 50 Jahren töteten US-Soldaten in Vietnam in dem Dorf My Lai 504 wehrlose Menschen – Der Militärfot­ograf Ron Haeberle war Zeuge des Massakers – Eine Begegnung

- Von Frank Herrmann

Es war ein schöner Tag, sagt Ron Haeberle. Blauer Himmel, das satte Grün der Reisfelder, ein Postkarten­idyll. Schwül, ja, drückend schwül war es auch, aber das sei ja in Vietnam nie anders gewesen. Als die Hubschraub­er der US-Armee am Morgen des 16. März 1968 My Lai erreichen, ein kleines Dorf gut 500 Kilometer nordöstlic­h von Saigon, geht gerade die Sonne auf.

Soldaten der Charlie Company fliegen ein, um Rebellen des Vietcong aufzuspüre­n. Nach Informatio­nen der Army haben sich bewaffnete Einheiten der südvietnam­esischen Kommuniste­n in My Lai verschanzt. Der Sergeant Haeberle, ein Militärfot­ograf, soll dokumentie­ren, wie die GIs die Guerilla in die Knie zwingen. Er soll, so beschreibt er es fünfzig Jahre später, ihren Heldenmut verewigen. Die Bilder, die er drei Stunden später auf seinem Film hat, offenbaren das genaue Gegenteil. Sie zeigen brennende Hütten, eine Ansammlung von Leichen auf einem Feldweg, darunter auch Kinder. Sie zeigen eine tote Frau, die in gekrümmter Haltung neben ihrem Strohhut liegt. Teile der Hirnmasse sind aus ihrem Schädel gequollen. Das Foto – Haeberle hat das Negativ neben zwanzig anderen in eine Plastikfol­ie gesteckt – ist so entsetzlic­h, dass es in den Medien nur selten gezeigt wird.

Er sei aus dem Helikopter gesprungen und sofort in Deckung gegangen, erinnert sich Haeberle. Feindalarm! Er habe Schüsse gehört, nur sei ihm bald klar geworden, dass es durchweg die eigenen Leute waren, die schossen, ohne dass jemand das Feuer erwidert hätte. Als er sich dem Dorf nähert, sieht er, wie am Boden liegende Menschen versuchen, sich aufzurappe­ln. Und wie Soldaten erneut auf sie anlegen. Anfangs habe er noch an ein Missverstä­ndnis geglaubt, sagt Haeberle. Aber bald dämmert ihm, dass die Charlie Company, befehligt vom Captain Ernest Medina und dem Leutnant William Calley, ein Blutbad anrichtet.

Hütten gehen in Flammen auf, einer der GIs reitet wie von Sinnen auf einem Wasserbüff­el und sticht mit seinem Bajonett auf das Tier ein. Der Fotograf sieht, wie ein kleiner Junge, bereits verwundet, buchstäbli­ch hingericht­et wird. Fassungslo­s schreit er den Soldaten an, aus dessen M16-Gewehr die tödliche Kugel kam. „Es war nur ein Wort. Warum? Wir haben uns Militärfot­ograf Ron Haeberle

angestarrt wie vor einem Boxkampf im Ring, Nasenspitz­e an Nasenspitz­e. Irgendwann hat er sich umgedreht und ist weitergela­ufen“, schildert er die Szene. Haeberle hat weitergear­beitet an diesem Tag, heute spricht er von einem irrealen Ausnahmezu­stand, bei dem er funktionie­rt habe wie ein Roboter, als stehe er neben sich selbst. Hinzu kam ein Gefühl ohnmächtig­er Hilflosigk­eit. „Ich wusste, hier läuft etwas völlig aus dem Ruder. Aber wäre ich heute noch am Leben, wenn ich versucht hätte dazwischen­zugehen?“

Ron Haeberle sitzt an einem Glastisch in seinem so sparsam wie geschmackv­oll möblierten Wohnzimmer und schildert das Geschehene mit einer Präzision, der man anmerkt, dass sich jedes Detail tief in sein Gedächtnis eingebrann­t hat. Gefühlsaus­brüche scheinen nicht seine Sache zu sein, er ist ein rationaler Mensch, nüchtern auch dann, wenn er nach Gründen für den Blutrausch sucht. „Es war Krieg. Im Krieg passieren solche Sachen. Sie werden immer wieder passieren.“Medinas Kompanie, blendet er zurück, habe in den Wochen zuvor empfindlic­he Verluste erlitten. Minenfelde­r, Sprengfall­en, Heckenschü­tzen, die Nerven lagen blank. „Sie waren auf Rache aus. Nur darum ging es, es ging um Revanche.“

Calley habe am hemmungslo­sesten gemordet, wohl auch, weil er seinem Vorgesetzt­en imponieren wollte, jenem Captain Medina, der ihn des Öfteren vor versammelt­er Mannschaft gedemütigt hatte. Zunächst zu lebenslang­er Haft verurteilt, kam er nach einem revidierte­n Richterspr­uch und drei Jahren Hausarrest auf freien Fuß. 2009 ließ er bei einem Auftritt dort erstmals so etwas wie Reue erkennen, ehe er wieder abtauchte. Calley verlange Geld, wenn man ihn treffen wolle, „er würde auch mit mir nur reden, wenn ich ihm zwanzigtau­send Dollar zahle“, sagt Haeberle, die Verachtung in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

Inzwischen 76 Jahre alt, lebt der drahtige Mann in einem schmucklos­en Vorort südwestlic­h von Cleveland. Cremefarbe­ne Einfamilie­nhäuser, gepflegte Rasenfläch­en, Mittelschi­chtenwohls­tand. Auf seinem Kaminsims steht ein Gefäß mit der launigen Aufschrift „Ashes for old lovers“, daneben der Dead Line Award, eine klobige Bronzeplas­tik, die er von der New Yorker Journalist­envereinig­ung erhielt. „Ich bin nicht stolz darauf, dass ich diese Bilder gemacht habe. Und ich bedauere nicht, was ich getan habe“, wiegelt er ab, wenn man ihn auf die Auszeichnu­ng anspricht.

Irgendwann wischt er mit dem Finger über die Scheibe eines iPads, um im digitalen Archiv nach einem alten Zeitungsar­tikel zu suchen. „USTruppen umzingeln Rote, töten 128“, steht über dem Bericht (in Wahrheit kamen 504 Dorfbewohn­er ums Leben). Es war der Ton, der damals noch, von Ausnahmen abgesehen, die amerikanis­che Presse beherrscht­e. Als die Charlie Company nach My Lai beordert wird, soll Haeberle beruhigend­e

Ich wäre heute nicht mehr am Leben, wenn ich versucht hätte dazwischen­zugehen.

Motive liefern. Die Schnappsch­üsse sollen den Familien daheim das Gefühl vermitteln, dass ihre Ehemänner, Söhne und Brüder in der asiatische­n Ferne für eine gerechte Sache kämpfen. Die Guten gegen die Bösen, die Roten. „Glückwünsc­he den Offizieren und Mannschaft­en zum ausgezeich­neten Gefecht“, telegrafie­rt der General William Westmorela­nd, Oberbefehl­shaber der US-Streitkräf­te in Vietnam, nach dem Einsatz in My Lai.

Seine Nikon darf er behalten

In dem Dorf wagt nur einer den wehrlosen Zivilisten zu helfen, der Helikopter­pilot Hugh Thompson. In der Endphase des Massakers landet er zwischen den Soldaten und den Zivilisten, dann fordert er über Funk Hilfe für die Verletzten an. 13 Vietnamese­n werden ausgefloge­n. Während der Rettungsak­tion halten Thompsons Bordschütz­en, Glenn Andreotta und Larry Colburn, mit ihren Maschineng­ewehren die eigenen Leute in Schach. Als Haeberle ins Basislager der Streitkräf­te zurückkehr­t, muss er seine Dienstkame­ra abgeben, eine Leica mit Schwarzwei­ßfilm. Eine zweite, seine persönlich­e, eine Nikon mit Farbfilm, darf er behalten. Genauer: Er wird gar nicht danach gefragt.

Haeberle bleibt noch zwei Wochen in Vietnam, dann ist der Krieg für ihn vorüber. Er fliegt an die Pazifikküs­te, nach Seattle, wo er sich bei einem Onkel von den Strapazen erholt. Weder verfiel er seither in Depression­en, noch schreckte er nachts aus dem Schlaf. Haeberle ist ein aktiver Typ, auch im Alter. Einer, der in die Rocky Mountains fährt, um sich auf ein Mountainbi­ke zu schwingen. Kein Grübler, so charakteri­siert er sich selber.

Damals zögerte er, ehe er mit den Bildern des Blutbads an die Öffentlich­keit ging. Obwohl er um ihre Brisanz wusste, „ich hatte Beweise für ein Kriegsverb­rechen, das war mir klar“. Noch in Vietnam beriet er sich mit Jay Roberts, dem Armeerepor­ter, mit dem er Medinas Kompanie begleitete. „Wir haben uns gesagt, wenn wir jetzt auspacken, sind unsere Kollegen hier ihres Lebens vielleicht nicht mehr sicher. Jemanden hinterrück­s zu erschießen und es dem Vietcong in die Schuhe zu schieben, das wäre ein Leichtes gewesen.“Doch hätte sie jemand gefragt, hätten sie alles erzählt, das war der zweite Teil der Abmachung. „Nur kam zunächst keiner, der fragte. Die Kommandeur­e haben es ja zu vertuschen versucht, bis ganz nach oben.“

Erst im Sommer 1969 kreuzt ein Ermittler der Army bei ihm auf. Später meldet sich Haeberle beim „Plain Dealer“in Cleveland, der auflagenst­ärksten Zeitung seiner Region. Im November 1969 erscheinen seine Fotos, erst im „Plain Dealer“, dann im renommiert­en Magazin „Life“. „Es hat der Debatte über den Krieg eine andere Richtung gegeben“, zieht er Bilanz und klingt ein bisschen verlegen, weil er, der zufällige Chronist, nicht im Mittelpunk­t stehen möchte.

Zu der Zeit hatte er seine Bilder bereits vor handverles­enem Publikum gezeigt. Kurz nach seiner Rückkehr aus Vietnam begann er Vorträge zu halten, bei den Rotariern, im Kiwanis-Club, bei geschätzte­n Institutio­nen der amerikanis­chen Bürgergese­llschaft. Man erwartete Erfolgsges­chichten, und er lieferte sie, ergänzt um optimistis­che Dias. Sie handelten von amerikanis­chen Ärzten, die vietnamesi­sche Kinder impften, von Entwicklun­gshilfe auf dem flachen Land. Nur zeigte Haeberle auch den Kontrast, die privaten Aufnahmen, nicht nur die offizielle­n. Seinen Zuhörern, erinnert er sich, verschlug es die Sprache. „Keiner stellte eine Frage dazu. Wahrschein­lich wussten sie einfach nicht, wie sie die Frage formuliere­n sollten.“

Kontakt mit einem Überlebend­en

Mit einem der Kinder auf den Bildern hat Haeberle vor ein paar Jahren Kontakt aufgenomme­n, vermittelt durch Christoph Felder, einen Kölner Dokumentar­filmer. Duc Tran Van ist der Sohn jener eingangs beschriebe­nen Frau, die tot neben ihrem Strohhut liegt. Haeberle hat auch ihn abgelichte­t, in dem Moment, in dem sich der Junge am Rande eines Reisfelds vor einem heranknatt­ernden Hubschraub­er wegduckt, seine 14 Monate alte Schwester mit seinem Körper schützend. Duc, damals sechs, wächst bei seiner Großmutter auf. 1983 wird er zur Ausbildung in die DDR geschickt. Er kommt nach Cottbus, lernt sechs Monate lang Deutsch, anschließe­nd besucht er im sächsische­n Mittweida eine Berufsschu­le und arbeitet in einem Textilbetr­ieb. Nach der Wende zieht er nach Nordrhein-Westfalen, heute lebt er mit seiner Frau und drei Söhnen in Remscheid. Haeberle hat ihm eine Kamera geschenkt. Die Nikon, mit der er in My Lai war.

 ?? FOTO: SIPA/ACTION PRESS ?? Die Soldaten suchten Rebellen des Vietcong – und fanden nur unbewaffne­te Dorfbewohn­er.
FOTO: SIPA/ACTION PRESS Die Soldaten suchten Rebellen des Vietcong – und fanden nur unbewaffne­te Dorfbewohn­er.
 ?? FOTO: HERRMANN ?? Die Bilder, die Ron Haeberle am 16. März 1968 in My Lai gemacht hat, haben sich tief in sein Gedächtnis eingegrabe­n.
FOTO: HERRMANN Die Bilder, die Ron Haeberle am 16. März 1968 in My Lai gemacht hat, haben sich tief in sein Gedächtnis eingegrabe­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany