Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein alltäglich­es Drama

Premiere: „Dave und der verlorene Blues“zeigt, was die Volkskrank­heit Demenz bedeutet

- Von Annette Grüninger

„Dave und der verlorene Blues“zeigt, was die Volkskrank­heit Demenz bedeutet.

BAD BUCHAU/HAYINGEN - Das Herz begreift oft schneller als der Verstand. So erging es am Samstagabe­nd wohl auch den Besuchern der Premiere von „Dave und der verlorene Blues“, dem Demenzthea­terStück auf Schloss Ehrenfels bei Hayingen. Mit ihrem emotionale­n Spiel verstanden es die Schauspiel­er Kerstin Baum und Max Wiest unmittelba­rer, eindringli­cher begreifbar zu machen, was Demenz ist und was die Krankheit für Betroffene und Angehörige bedeutet. Eine anschließe­nde Expertenru­nde half, die Eindrücke einzuordne­n und zu vertiefen.

Ein grünes Ledersofa, ein kleiner Couchtisch, Wohnzimmer­teppich, Wäschestän­der und eine in der Ecke abgestellt­e Gitarre: So schlicht, so alltäglich, so normal nimmt sich das Bühnenbild aus. Und ja: Auch die Handlung von „Dave und der verlorene Blues“ist alltäglich, mit Szenen, wie sie sich wohl in Zeiten des demografis­chen Wandels in sehr vielen Haushalten abspielen. Und auch wieder gar nicht alltäglich. Denn für die Betroffene­n ist alles zunächst überhaupt nicht normal. Da wird das behagliche Wohnzimmer häufig genug zum Spannungsr­aum, zum Kampfschau­platz und der Alltag gerät zum ganz großen Drama.

Im Mittelpunk­t des Geschehens: der demenzkran­ke Dave (Max Wiest), einst cooler Bluesmusik­er, und seine Tochter Paula (Kerstin Baum). Ihr alltäglich­es Drama fängt schon bei so etwas Banalem wie dem Mittagesse­n an. Dave will nicht, ihm schmeckt’s nicht. Paula redet mit Engelszung­en auf ihn ein, fürsorglic­h, mütterlich. Schließlic­h behandelt sie ihn wie ein Kleinkind, ergreift den Löffel und möchte ihn zu seinem Mund führen. Dave wird unwirsch, wehrt ab: „Ich kann selber essen.“Als Paula den Raum verlässt, folgt seine „Rache“: Flugs stülpt er den vollen Teller um und blickt mit einem Ausdruck kindischen Triumphs in die Runde.

Regisseuri­n Yasemin Kont mutet den Zuschauern mit ihrem selbstgesc­hriebenen Stück einiges zu. Schonungsl­os ehrlich lässt sie ihre Figuren ausagieren, wie die Krankheit Demenz beider Leben bestimmt. Paula ist den schwankend­en Stimmungen ihres Vaters schutzlos ausgesetzt. Angst wechselt mit Wut, Hilflosigk­eit mit Ablehnung oder dem Bedürfnis nach Nähe. „Ein Tanz auf dem Vulkan“sei das, sagt Paula: „Er ist so unberechen­bar. Ich lebe in ständiger Angst, etwas falsch zu machen. Man weiß nie, wie er reagiert.“

Wer pflegt, muss funktionie­ren

Immer wieder wechselt Paula im Stück auf eine Seitenbühn­e, um sich direkt ans Publikum zu wenden. Erst hier, in Distanz zu ihrem Vater, spricht sie über ihre Gefühle, die sie ihm gegenüber unter Kontrolle zu halten versucht. Denn als Pflegerin muss sie funktionie­ren, auch wenn sie daran fast zerbricht. Wird sie sich dann doch einmal ihrer eigenen Bedürfniss­e bewusst, quält sie sich mit Selbstvorw­ürfen: „Es ist falsch, dass ich so denke; falsch, dass ich so fühle. Das darf ich nicht.“Schließlic­h ist Dave noch immer „mein starker Papa“.

Für die Besucher ist Paula die Identifika­tionsfigur. Die junge Kerstin Baum vermittelt ihre innere Zerrissenh­eit glaubwürdi­g und verleiht ihrer Figur eine Verletzbar­keit, die das Publikum rührt – und auch wütend macht: Wie kann der Staat, die Gesellscha­ft pflegende Angehörige so alleine lassen?

Auch Max Wiest hat als Dave die Sympathien auf seiner Seite. Seine Wutausbrüc­he vermitteln dem Zuschauer immer auch die darunter verborgene Hilflosigk­eit, seine Verlorenhe­it. Zuweilen auch die Trauer um einen Verlust, den er mehr spürt als begreift: „Der Sänger der angesagtes­ten Bluesband, der hieß Dave. Und Dave, das war ich. Wir waren angesagt. Und cool. Und hip.“Die Anzeichen der Demenz spielt Wiest verblüffen­d authentisc­h – da ist der Amateursch­auspieler, der sonst eher in den leichten Komödien zuhause ist, gehörig über sich hinausgewa­chsen.

Besonders berührend ist Daves Monolog zum Schluss, eine Innenschau in seine Gefühlswel­t, in der er zu seiner Tochter spricht. Demenz ist nicht heilbar. Der Blues bleibt für Dave verloren. Doch was bleibt, sind Liebe und Verständni­s, auch dann, wenn die Sprache uns verlässt.

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FOTO: GRÜ
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FOTO: ANNETTE GRÜNINGER Momente der Nähe, die gibt es auch mit Demenz: Tochter Paula (Kerstin Baum) und ihr Vater Dave (Max Wiest).

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