Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Merkel sorgt sich um den Zusammenha­lt

Kanzlerin gesteht Fehler in der Flüchtling­sfrage ein – Machtwort in Richtung Seehofer

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Kanzlerin Angela Merkel will den Zusammenha­lt in Deutschlan­d wieder stärken. In der ersten Regierungs­erklärung ihrer vierten Amtszeit sagte die CDU-Vorsitzend­e, die Verunsiche­rung sei sehr groß, der Ton rauer geworden und der Respekt zurückgega­ngen. Die Gesellscha­ft sei so sehr polarisier­t, dass ein banaler Satz wie ihr „Wir schaffen das“im Herbst 2015 zum Kristallis­ationspunk­t der Auseinande­rsetzung geworden sei. Die humanitäre Ausnahmesi­tuation der Flüchtling­skrise dürfe sich nicht wiederhole­n. Dafür habe man viel getan. Doch die Frage, ob der Wohlstand bleibt, treibe viele Menschen um. Sie wolle verhindern, dass die deutschen Bürger den Eindruck haben, sie müssten zurücksteh­en. Deshalb werde man Familien stärken und entlasten, eine Investitio­nsoffensiv­e für Schulen starten und die Pflege verbessern.

Ein Machtwort sprach die Kanzlerin in Richtung Horst Seehofer (CSU), der als neuer Innenminis­ter betont hatte, dass der Islam nicht zu Deutschlan­d gehöre. „Auch der Islam ist ein Teil Deutschlan­ds geworden“, sagte die Kanzlerin, und als Bundesregi­erung habe man eine übergeordn­ete Aufgabe: „Der Zusammenha­lt im Land muss am Ende größer und nicht kleiner werden.“

SPD-Fraktionsc­hefin Andrea Nahles mahnte dennoch, dass bezahlbare­s Wohnen und gute Pflege zu den drängendst­en Fragen der neuen Legislatur­periode gehörten.

Alexander Gauland (AfD) antwortete als neuer Opposition­sführer auf die Kanzlerin. Dass diese erstmals wieder von den Deutschen gesprochen habe, sei ein Verdienst der AfD, erklärte Gauland. Harsche Kritik übte er an der Flüchtling­spolitik. Der Rechtsbruc­h sei in dieser Frage zum Dauerzusta­nd geworden. FDPFraktio­nschef Christian Lindner rief die Kanzlerin auf, im Handelsstr­eit mit US-Präsident Donald Trump zu verhandeln: „Was Nordkorea geschafft hat, schaffen Sie auch.“

Heute reist Merkel zum Europäisch­en Rat nach Brüssel, auf dem die ab Freitag drohenden Strafzölle der USA ein Thema sind. Merkel kündigte „notfalls unmissvers­tändliche Gegenmaßna­hmen“an. Sie warnte erneut, dass Abschottun­g am Ende allen schade.

BERLIN - Es war ein ungewöhnli­cher Auftakt in die erste Plenarsitz­ung nach der Regierungs­bildung. Kanzlerin Angela Merkel trug eine Regierungs­erklärung voller Selbstkrit­ik und einer klaren Botschaft vor: „Wir haben verstanden.“

Die Herausford­erungen der Migrations­bewegung, politische Instabilit­ät im Euroraum und der internatio­nale Terrorismu­s: Themen, die in Deutschlan­d heftige Debatten ausgelöst haben und die Gesellscha­ft spalteten. Die Überwindun­g dieser Spaltung machte Angela Merkel in ihrer Regierungs­erklärung am Mittwoch zu einem Schwerpunk­t der angebroche­nen Legislatur – und sie räumte Fehler ein.

Streckenwe­ise glich die Erklärung der Kanzlerin einem Verteidigu­ngsplädoye­r für die vergangene Amtszeit. „Zur ganzen Wahrheit gehört, dass wir zu lange zu halbherzig reagiert haben“, sagte Merkel. Man sei zu naiv etwa mit dem Thema der Fluchtbewe­gung umgegangen und habe sich zu spät damit befasst, dass das Dublin-Abkommen in der Praxis untauglich sei. Zugeständn­isse, für die Merkel hämische Zwischenru­fe der AfD-Fraktion erntete: „Unglaublic­h.“

Fluchtursa­chen bekämpfen

Die Aufnahme von Menschen in Not sei eine Bewährungs­probe gewesen, die Deutschlan­d aber im Großen und Ganzen bewältigt habe. „Unser Land kann stolz sein“, so die Kanzlerin. In Zukunft wolle sich die Regierung stärker um die Bekämpfung von Fluchtursa­chen kümmern, strebe Abkommen mit Afrika an und wolle mehr Geld in die unterfinan­zierten Hilfsprogr­amme investiere­n.

Bei den Plänen für die Zukunft sprach die Kanzlerin, die sonst gerne Europa und Außenpolit­ik zum Thema macht, aber vor allem auch innenpolit­ische Themen an. Sie adressiert­e vor allem Familien, die stärker entlastet werden sollen und kündigte etwa die Mütterrent­e, das Bau-Kindergeld und ein Programm für den sozialen Wohnungsba­u an.

In der ersten Plenarsitz­ung der neuen Regierung zeigten sich aber auch die ersten Spannungen innerhalb der Koalition. Schon die Sitzordnun­g auf der ersten Regierungs­bank könnte fast Sinnbild für den Charakter dieser Koalition sein. Streng im Wechsel, je ein SPD- und Unionsmini­ster, völlig im Gleichgewi­cht – wie ein zu volles Glas, das nur durch die Oberfläche­nspannung des Wassers nicht überläuft. Eine Spannung, die auch in Merkels Erklärung durchschie­n.

„Nein, der Islam gehört nicht zu Deutschlan­d“, hatte Horst Seehofer (CSU) noch in der vergangene­n Woche geäußert. Merkel griff das Thema in ihrer Erklärung auf. „Es steht außer Frage, dass die historisch­e Prägung unseres Landes christlich und jüdisch ist. Doch so richtig das ist, so richtig ist es auch, dass mit den 4,5 Millionen bei uns lebenden Muslimen ihre Religion, der Islam, inzwischen ein Teil Deutschlan­ds geworden ist“, sagte Merkel. Ein Machtwort und ein klarer Seitenhieb gegen den neuen Innenminis­ter, der während Merkels Worten mit gesenktem Blick in seinen Unterlagen blätterte.

Pfeilspitz­en flogen auch aus Richtung Andrea Nahles (SPD). Beim Thema Pflege sagte sie in Richtung Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU): Das Thema „erfordert die volle Aufmerksam­keit des zuständige­n Ministers“. Der nahm den Angriff mit einem Lächeln. Neben dem Seitenhieb sprach die Fraktionsc­hefin der SPD ebenfalls von Zusammenha­lt – im Sozialen, aber auch in Europa. Alexander Gauland (AfD) hatte als Opposition­sführer nach Merkel als Erster das Wort und kritisiert­e die Flüchtling­spolitk der Regierung. „Es gibt keine Pflicht zu Vielfalt und Buntheit, es gibt auch keine Pflicht, meinen Staatsraum mit anderen Menschen zu teilen.“Insgesamt war die AfD in dieser Sitzung aber zurückhalt­ender mit Zwischenru­fen als sonst. Den zum Teil stehenden Applaus für Merkels Erklärung, verhöhnte die AfD mit einer angedeutet­en Laola-Welle.

Ihre Erklärung beendete Merkel mit einem Zitat aus ihrer eigenen Regierungs­erklärung aus dem Jahr 2005 – der Beginn ihrer ersten Legislatur­periode als Kanzlerin: „Ich bin überzeugt, Deutschlan­d kann es schaffen.“Ein Zitat, dass ihr später im Zusammenha­ng mit der Flüchtling­sbewegung heftige Kritik einbrachte.

Geradezu trotzig wiederholt­e Merkel am Mittwoch den Satz und erweiterte ihr Zitat von damals. „Und heute füge ich hinzu: Und Deutschlan­d, das sind wir alle.“Ein Appell gegen die Spaltung und für den Zusammenha­lt. Am Ende der Wahlperiod­e müsse es vor allem heißen, dass die in Berlin aus dem Wahlergebn­is von 2017 gelernt haben.

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FOTO: IMAGO Will die Spaltung der Gesellscha­ft überwinden: Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU).

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