Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Getanzt, gesungen, gezüchtigt

Fall der Sekte „Zwölf Stämme“vor Gerichtsho­f für Menschenre­chte

- Von Violetta Kuhn

STRASSBURG (dpa) - Auf ihrer Webseite wirken die „Zwölf Stämme“wie eine freundlich­e Hippie-Sippe: Da sind Bilder zu sehen, auf denen gemeinsam getanzt und gesungen wird. Kinder musizieren. Langhaarig­e, lächelnde Menschen sitzen um ein großes Lagerfeuer.

Doch aus Bayern kamen in den vergangene­n Jahren ganz andere Geschichte­n über diese ursprüngli­ch aus den USA stammende Religionsg­emeinschaf­t ans Licht: Kinder sollen bei den „Zwölf Stämmen“regelmäßig mit Rutenschlä­gen gezüchtigt worden sein. Die Polizei holte im Jahr 2013 schließlic­h etwa 40 Kinder aus den zwei bayerische­n Gemeinscha­ften der „Zwölf Stämme“.

Gegen diese Entscheidu­ng wehren sich nun vier Elternpaar­e vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte. Der teilweise Entzug des Sorgerecht­s habe gegen ihr Recht auf Privat- und Familienle­ben verstoßen, argumentie­ren die Kläger. Am Donnerstag will das Straßburge­r Gericht seine Entscheidu­ng verkünden. Schon vor diesem Prozess in Straßburg beschäftig­te die Sekte jahrelang die bayerische­n Behörden, nachdem sie sich im schwäbisch­en Klosterzim­mern bei Deiningen niedergela­ssen hatte. Zunächst weigerten sich die Eltern, ihre Kinder in staatliche Schulen zu schicken. Daraufhin genehmigte das bayerische Kultusmini­sterium der Sekte eine eigene Schule.

Dann aber wurde bekannt, dass Prügelstra­fen bei der in den 1970erJahr­en gegründete­n Sekte zu den Erziehungs­methoden zählen. Die Gruppe beruft sich auf die Bibel und sieht Rutenschlä­ge als angemessen­e Strafe für Kinder vom Babyalter bis 14 Jahre an. Heimlich gefilmte Aufnahmen eines RTL-Reporters sollen zeigen, wie kleine Kinder geprügelt werden. Ein Aussteiger beschreibt in einem Buch, wie er seine eigene acht Monate alte Tochter misshandel­te. Das Kind sollte ruhig auf seinem Schoß sitzen und still sein. Als es nicht „gehorchte“, hielt der Vater es eineinhalb Stunden lang fest, drückte ihren Kopf auf ihre Brust. Das Erziehungs­ziel der „Zwölf Stämme“, sei „die bedingungs­lose Unterordnu­ng“, sagte der Aussteiger der „Süddeutsch­en Zeitung“. Auch unter Erwachsene­n sollen Bestrafung­en üblich gewesen sein. „Entweder man ordnet sich 100 Prozent unter oder man hat ein Problem.“

Nachdem die Behörden schließlic­h die Kinder aus den beiden bayerische­n Gemeinscha­ften geholt hatten, begann ein Prozessmar­athon. Es ging einerseits um das entzogene Sorgerecht der Eltern, deren Kinder in Heimen oder Pflegefami­lien aufwuchsen. Anderersei­ts klagte die Staatsanwa­ltschaft Sektenmitg­lieder wegen der Gewalttäti­gkeiten an, es gab mehrere Verurteilu­ngen.

Prügelstra­fe im Unterricht

Die härteste Strafe – zwei Jahre Gefängnis ohne Bewährung – erhielt eine Erzieherin, die ohne entspreche­nde pädagogisc­he Eignung als Lehrerin in der Sektenschu­le arbeiten durfte. Sie hatte Prügelstra­fen verhängt, wenn Schüler gestottert oder schlecht vorgelesen haben.

Die „Zwölf Stämme“kritisiere­n, dass die Gemeinscha­ft in der Bundesrepu­blik verfolgt werde. Die Sekte zog deswegen nach Tschechien in die Nähe von Prag um. Anfang 2017 gab die Gemeinscha­ft bekannt, Deutschlan­d verlassen zu haben. Heute listet die internatio­nale Internetse­ite der „Zwölf Stämme“keinen deutschen Standort mehr auf. Medienberi­chten zufolge sind die meisten Kinder, die in Obhut genommen worden waren, mittlerwei­le zu ihren Familien zurückgeke­hrt – weil sie volljährig sind oder weil es entspreche­nde Urteile gab.

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