Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Geschichte der Opfer erzählen

Psychiatri­eprofessor Paul-Otto Schmidt-Michel plant Aufbau einer Datenbank

- Von Barbara Miller

RAVENSBURG - Mehr als 70 000 Menschen sind in der NS-Zeit Opfer der sogenannte­n Euthanasie geworden. Die Erinnerung an die Ermordung von psychisch Kranken unter dem Decknamen Aktion „T4“hält seit über zehn Jahren das „Denkmal der grauen Busse“wach. Die Initiative dafür kam aus Ravensburg. Paul-Otto Schmidt-Michel, Professor für Psychiatri­e und zu jener Zeit Ärztlicher Direktor des Zentrums für Psychiatri­e (ZfP) Weißenau, der damalige Oberbürger­meister Hermann Vogler und Kulturamts­leiter Franz Schwarzbau­er haben die Skulptur angeregt. Im Park des ZfP Weißenau ist einer diese Beton-Busse der Künstler Andreas Knitz und Horst Hoheisel fest installier­t. Der andere ist immer auf Tournee durch Deutschlan­d. Momentan steht er am Goetheplat­z in Frankfurt.

10 000 Ermordete in Grafeneck

Mit den grau lackierten Bussen wurden Patientinn­en und Patienten aus psychiatri­schen Kliniken abgeholt und in Tötungsans­talten gebracht. Allein 10 654 Menschen mit geistigen Behinderun­gen oder psychische­n Erkrankung­en wurden 1940 bis 1941 in Grafeneck auf der Alb bei Gomadingen ermordet, alle durch Gas, manchmal noch am Tag der Ankunft. Ihre dortigen Erfahrunge­n brachten einige Helfer später in Auschwitz ein.

Paul-Otto Schmidt-Michel hat sich von Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit auch für die Geschichte seiner Wissenscha­ft interessie­rt. Er gehört zu einer Generation, die Fragen gestellt hat – nach der Zukunft der Psychiatri­e, aber auch nach ihrer Vergangenh­eit in der NS-Zeit. Das Thema hat ihn bis heute nicht losgelasse­n. Nach seiner Pensionier­ung widmet sich der Psychiatri­eprofessor verstärkt der medizinhis­torischen Forschung.

Gerade hat er sich durch einen Teil des Aktenbesta­ndes am Bundesarch­iv in Berlin gearbeitet, nachzulese­n in der neuen Ausgabe des Magazins „Oberland“. Auf abenteuerl­ichen Wegen sind über das Ministeriu­m für Staatssich­erheit der DDR 30 000 Krankenakt­en im Bundesarch­iv gelandet. Schmidt-Michel sucht dort nach Quellen, die Auskunft über die Schicksale von Patientinn­en und Patienten geben können, die in den Anstalten im Raum Bodensee-Oberschwab­en untergebra­cht waren und von Weißenau, Zwiefalten oder Reichenau nach Grafeneck gebracht wurden.

Die Sache ist schwierig aus mehreren Gründen, wie Schmidt-Michel erläutert: Denn die Krankenakt­en wurden noch während des Krieges „gesäubert“. Entnommen wurde die Korrespond­enz mit den Behörden, aber auch die mit den Angehörige­n. Welche Schicksale lassen sich aus den dürren Aufzeichnu­ngen der Ärzte rekonstrui­eren? Schmidt-Michel hat gezielt nach Opfern der Aktion „T4“aus Ravensburg und Weingarten gesucht. Einige Schicksale stellt er dar, jedes anders und am Ende doch gleich: Tod durch Vergasung. Auffallend ist, dass die Nationalso­zialisten trotz der Propaganda um „Erbgesundh­eit“und „unwertes Leben“die Aktion „T4“unter größter Geheimhalt­ung vollzogen. Die Angehörige­n wurden bewusst getäuscht über die wahre Todesursac­he.

Reaktionen der Angehörige­n

Wie haben sie reagiert? Auch dazu ist der Quellenbes­tand zu heterogen, zu unsystemat­isch, um zu allgemein gültigen Aussagen zu kommen, sagt Schmidt-Michel. Der steilen These des Historiker­s Götz Aly jedenfalls, wonach viele Angehörige Mittäter gewesen seien, widerspric­ht Schmidt-Michel. Aus Briefen, die in Zwiefalten gefunden wurden, spreche einerseits große Anteilnahm­e am Schicksal wie auch Empörung darüber, dass sie als Angehörige nicht oder nur bruchstück­haft informiert wurden über die „Verlegung“.

Schmidt-Michel möchte mit seinen Arbeiten den Menschen eine Geschichte geben, deren Ent-Individual­isierung schon vor ihrer Verfolgung in der „Verwahrpsy­chiatrie“eingesetzt hat. Weitere Erkenntnis­se erhofft er sich durch Angehörige. Die meisten Opfer hatten keine Kinder. Aber vielleicht, so hofft Schmidt-Michel, gibt es in Familien noch Dokumente, Briefe und Erzählunge­n über einen Onkel, eine Großtante, die Opfer wurden. Geplant ist ein Archiv der Opfer-Biografien. Sie sollen im Internet veröffentl­icht werden. Im Bodenseekr­eis ist das Projekt schon relativ weit gediehen. Eine Webseite für ein „Gedenkbuch für die Opfer der NS-Euthanasie/T4“aus dem Bodenseekr­eis ist von Landrat Wölfle in Auftrag gegeben. Es liegen Namen, Geburtsort und weitere Angaben zu den Opfern vor. Unter der Adresse kreiskultu­ramt@bodenseekr­eis.de werden Informatio­nen entgegenge­nommen.

Die Stadt Ravensburg plant dasselbe. Kulturamts­leiter Franz Schwarzbau­er schwebt neben dem Internet auch ein konkreter Ort vor, an dem die Schicksale der Opfer präsent sind. Vielleicht in der Stadtbibli­othek. Ein Kontakt für Angehörige kann über die Adresse kultur@ravensburg.de hergestell­t werden. Thomas Müller, Paul-Otto Schmidt-Michel, Franz Schwarzbau­er (Hrsg.): Vergangen? Spurensuch­e und Erinnerung­sarbeit – Das Denkmal der Grauen Busse. 279 Seiten. Verlag Psychiatri­e und Geschichte. Zwiefalten 2017. Zeitschrif­t „Oberland“– Kultur, Geschichte und Natur im Landkreis Ravensburg. H1, Jg. 29. Kontaktadr­essen: kreiskultu­ramt@bodenseekr­eis.de kultur@ravensburg.de

 ?? FOTO: SZ-ARCHIV ?? Ein grauer Bus aus Beton: Das Denkmal im Zentrum für Psychiatri­e in Weißenau erinnert an die Deportatio­n und Ermordung von Kranken in der NS-Zeit.
FOTO: SZ-ARCHIV Ein grauer Bus aus Beton: Das Denkmal im Zentrum für Psychiatri­e in Weißenau erinnert an die Deportatio­n und Ermordung von Kranken in der NS-Zeit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany