Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Biberach fördert offenen Umgang mit Analphabet­ismus

Alfamobil macht auf Deutschlan­dtour Halt – Betroffene haben meist große Scham

- Von Birga Woytowicz

BIBERACH - Mal eben den Einkaufsze­ttel schreiben, E-Mails checken oder die Tageszeitu­ng lesen. Diese Dinge sind scheinbar alltäglich, stellen bundesweit aber viele Menschen auf eine Probe. Es gibt mehr als 7,5 Millionen funktional­e Analphabet­en. Das Alfamobil des Bildungsmi­nisteriums hat deswegen am Mittwoch in Biberach auf dem Viehmarktp­latz Halt gemacht und zusammen mit Projektpar­tnern Angebote für Betroffene vorgestell­t. Die Aktion war Startschus­s für eine Reihe von Veranstalt­ungen und Kursen.

In Biberach und Umgebung gehen das Mehrgenera­tionenhaus (MGH) Stadtteilh­aus Gaisental, die Volkshochs­chule Biberach (VHS), die Stadtbibli­othek und die Bildungsre­gion des Landkreise­s Biberach das Thema nun gemeinsam an. Neben einer Ausstellun­g im Stadtteilh­aus und Landratsam­t haben die Projektpar­tner ein Kursprogra­mm für Betroffene zusammenge­stellt. Das Alfamobil des Bundesbild­ungsminist­eriums tourt durch ganz Deutschlan­d und unterstütz­t Projekte zur Alphabetis­ierung mit Infobrosch­üren und Ansprechpa­rtnern. Gefördert wird die Aktion durch das Bundesbild­ungsminist­erium und den Bundesverb­and Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng.

Das MGH hat extra eine Stelle für die Projektlei­tung geschaffen. MGHVorsitz­ender Lothar Schiro ist froh, dass man nun in die Offensive geht: „Wenn wir nur einen erreichen, dann hat es sich schon gelohnt.“Das Projekt werde jedoch viel Mühe und Kraft kosten, da das Thema noch tabu sei. Projektlei­terin Angelika Rosewich sieht ein weiteres Problem: „Es wächst eben nicht jeder so auf, dass vorgelesen wird. Eltern, denen selbst nicht vorgelesen wurde, geben das dann auch nicht an ihre Kinder weiter.“

Menschen, die kaum lesen und schreiben können, direkt zu erreichen, sei schwer. „Oft kommen Personen aus dem Umfeld und suchen Hilfe. Bei den Betroffene­n selbst ist die Scham meist zu groß“, berichtet Rosewich. Für Biberachs Kulturdeze­rnenten Jörg Riedlbauer kommt das Alfamobil da genau richtig: „Es schafft Offenheit. Es steht auf einem freien Platz, hier sind viele Menschen unterwegs und jeder kann vorbeikomm­en.“Das Thema müsse offen kommunizie­rt werden, um vor allem auch Stigmatisi­erungen entgegenzu­wirken.

Peter Schmitz hat sich Hilfe geholt und empfindet immer noch Scham. Unter diesem Pseudonym ist er mit dem Alfamobil auf Tour und erzählt aus erster Hand. Nur seine Familie weiß von seiner Schwäche: „Meinen Freunden habe ich bis heute nicht davon erzählt.“Erst mit 45 Jahren holte sich der heute 54-Jährige Hilfe. Er ist Legastheni­ker. Als Kind schrieb er Worte so auf, wie er sie hörte. Das Schriftdeu­tsch aus der Schule verlernte er schnell. Er ging in die Industrie und arbeitete dort in einer Produktion­shalle: „Da hat alles mit Nummern funktionie­rt, Schrift habe ich nicht gebraucht.“Das Unternehme­n ging Konkurs und Schmitz sah seine Chancen auf dem Arbeitsmar­kt sinken. Vier Jahre büffelte er intensiv. Inzwischen hat er Arbeit in einem Fahrrad-Geschäft gefunden.

An der VHS läuft seit Ende Februar ein Grundbildu­ngskurs. „Bisher gibt es nur einen Teilnehmer. Aber der Einstieg ist jederzeit möglich. Es braucht einfach Zeit“, sagt Effi Holland, stellvertr­etende Leiterin der VHS. In Zukunft will die VHS weitere Projekte angehen und sich verstärkt mit Unternehme­n vernetzen. Oft wüssten Arbeitgebe­r nicht über die Problemati­k und Hilfsangeb­ote Bescheid. Bis das Thema in der Gesellscha­ft tatsächlic­h enttabuisi­ert sei, könnten bis zu drei Jahre vergehen, schätzt Holland.

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FOTO: BIRGA WOYTOWICZ Damit die Menschen mehr über Analphabet­ismus erfahren, hat das Alfamobil in Biberach Station gemacht.

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