Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Als der Zug mit KZ-Häftlingen in Biberach Halt machte
Gertrud Graf und Eugen Michelberger haben ein eher unbekanntes Kapitel aus den letzten Kriegstagen aufgedeckt
REGION (sz) - Das Ehepaar Gertrud Graf und Eugen Michelberger befasst sich seit den 80er-Jahren mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Bei ihren Recherchen sind sie auf einen Zug mit KZ-Häftlingen aufmerksam geworden, der zeitweise in Biberach und Warthausen abgestellt gewesen sein soll. „Nur wenigen Menschen ist es bewusst, dass es diese beweglichen KZs tatsächlich gegeben hat“, sagt Gertrud Graf. Gemeinsam mit ihrem Mann Eugen Michelberger habe sie nun den Beweis. Die beiden sind keine Historiker von Beruf, sie haben lediglich großes Interesse an der Geschichte. Das Ehepaar aus Wolpertswende hat der SZ Biberach einen Artikel zukommen lassen, der vom 12. April 1945 handelt. Also fast genau vor 73 Jahren. 12. April 1945: Fliegeralarm in Biberach: Bis zu diesem Tag ist Biberach weitgehend von Angriffen verschont geblieben. Deshalb nehmen viele Biberacher die Warnung der Sirenen nicht ernst. Die meisten bleiben in den Häusern oder an ihren Arbeitsplätzen. Andere stellen sich nur am Ulmer Tor unter. Josef Erath beobachtet das Geschehen von Mettenberg aus: „Man hörte Fliegergebrumm, das bedrohlich anschwoll. Eine Gruppe von Bombern überquerte im Tiefflug das Dorf, dann sah man, wie sich die Bombenschächte öffneten ... Man hörte schwere Detonationen und bald sah man eine riesige Rauchwolke aufsteigen.“
Mehr als 50 Menschen sterben in diesen Minuten, 14 werden verletzt, 37 Gebäude komplett zerstört, 139 beschädigt. Betroffen sind die UlmerTor-Straße, der Obstmarkt, die Pfluggasse, die Bürgerturm- und die Bahnhofstraße. Die Straßen sind mit Trümmern und Bombenkratern übersät. Die Feuerwehr und die Bürger versuchen, die Brände zu löschen, Verschüttete zu retten. Unterstützung kommt aus Warthausen: Dort ist seit dem 5. April ein Zug abgestellt, aus dem Gruppen von KZ-Häftlingen zu Arbeitseinsätzen ausrücken. Alois Blersch, der Altbürgermeister von Warthausen, erinnerte sich 1955: „Wochenlang stand auf den Bahngleisen beim Stellwerk, das zum Bahnhof Warthausen gehört, ein Eisenbahnzug, (...) der mit schätzungsweise mehreren Hundert männlichen Personen in weiß-blau gestreifter Sträflingskleidung besetzt war. Der Zug stand unter Bewachung von SS-Leuten. Die Männer haben teilweise bei Bauern in Warthausen und Birkendorf aushilfsweise gearbeitet.“
Bei dem Zug handelte es sich um eine SS-Eisenbahnbaubrigade. Diese Brigaden waren 1942 gegründet worden und sollten in die am meisten zerstörten Städte entsandt werden, zur beschleunigten Behebung von Bomben- und Brandschäden, zur
Freilegung und Sprengung nicht detonierter Bomben. Biberach gehörte nicht zu diesen Städten. Der Zug befand sich aus anderen Gründen vor Ort. Ein KZ auf Rädern in Warthausen: Bei der Baubrigade in Biberach handelte es sich um einen Teil der 7. SS-Eisenbahnbaubrigade, die Anfang September 1944 in Auschwitz gebildet und nach Karlsruhe entsandt worden war. Die Häftlinge waren überwiegend Mitglieder der „polnischen Heimatarmee und des polnischen Widerstands“. Sie hatten sich im August 1944 am Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht in Warschau beteiligt. Die übrigen waren russische Kriegsgefangene und einige wenige deutsche KZHäftlinge.
Von Oktober 1944 bis April 1945 war die 7. SS-Eisenbahnbaubrigade in Stuttgart im Einsatz. Weil die Front im April 1945 immer näher rückte, beschlossen die Verantwortlichen den Zug zu „evakuieren“. Es war aber nicht möglich, den Zug als Ganzes abzufahren. Zu viele Gleisanlagen waren bereits zerstört. Deshalb teilte SS-Führer Kurt Schäfer den Bauzug. Den ersten Teil übernahm er selbst, den zweiten übergab er seinem Stellvertreter, Scharführer Luger. Der von Luger geführte Zug verließ Stuttgart am 2. April 1945 in südlicher Richtung. Danach verliert sich jede Spur.
Am 3. April 1945 verließ Kurt Schäfer mit dem anderen Teil der Brigade die Stadt Stuttgart. Zwei Tage später erreichte der Zug Biberach. Dort wurde er zum Bahnhof Warthausen weitergeleitet und auf einem Nebengleis, beim Stellwerk Warthausen, abgestellt. In der Bevölkerung wurde von „Lazarettzug“oder einem „KZ-Häftlingstransport“gesprochen. Genaues wusste niemand. Am 19. April 1945 belegten Jagdbomber das ganze Gebiet mit Beschuss, darunter auch den Bahnhof Warthausen. Augenzeugen dazu: „Ein Lazarettzug, der auf einem Rangiergleis in nächster Nähe abgestellt war, blieb glücklicherweise verschont.“
Französische Truppen waren inzwischen über das nördlichen Baden nach Württemberg vorgerückt. Die Nervosität der SS-Wachmannschaften nahm zu. Die Häftlinge erkannten die Chance und machten SS-Führer Kurt Schäfer einen Vorschlag: Er solle die Verwaltung des Zuges in ihre Hände legen. Gegenüber den deutschen Behörden und der Bevölkerung würden sie einen normalen Alltag der Baubrigade vortäuschen. Nach Ankunft der alliierten Truppen würden sie Kurt Schäfer als Wehrmachtsoffizier ausgeben und bezeugen, dass er die Brigade gut behandelt habe.
Kurt Schäfer entließ daraufhin alle SS-Männer, bis auf einen Sanitäter und den Koch. Die Häftlinge übernahmen den Zug. Sie erledigten bis zum 23. April 1945 alle anfallenden Arbeitseinsätze. Auf Anfrage sandten sie Gruppen aus, die in der Stadt Biberach halfen, die Folgen des Luftangriffs zu beseitigen.
Der Bürgermeister und die Bürger von Warthausen befürchteten schlimme Repressionen der französischen Truppen, wenn diese nach Einnahme des Ortes das „bewegliche KZ“vorfinden würden. Bürgermeister Alois Blersch suchte deshalb nach einer Möglichkeit, die Brigade zum Verlassen des Ortes anzuregen. „In der Sonntagnacht vor dem Einmarsch bat mich Bahnhofsvorstand Aßfalg fernmündlich, zu sich auf den Bahnhof zu kommen. Er hat dann mit mir beraten, wie man
die Strafgefangenen, die nach dem Einmarsch eine Gefahr für Warthausen waren, wegbringen könnte. Daraufhin hielt ich Rücksprache mit dem wachhaltenden SS-Mann, der mir verraten hat, dass die Wachleute alle ihre Stellung verlassen haben, und er allein sei; ich sollte nichts verraten, sonst komme er vors Standgericht. (...) Der Bahnhofvorstand ließ den Zug in Richtung Aulendorf abfahren, angeblich ins Allgäu.“Anton Feifel (Autor der Heimatkundlichen Blätter Aulendorf ) schreibt zu diesem Tag: „Als letzter Zug fuhr ein Zug mit KZ-Häftlingen auf der Südbahn. Dieser kam in den Vormittagsstunden noch bis Schussenried, wo er am Einfahrtsignal abgestellt wurde.“Die Befreiung, die Tage in
Schussenried: Unterwegs erfuhren die Häftlinge der Baubrigade, dass das deutsche Militär die Gegend schon geräumt hatte. Die Gefangenen überwältigten in Schussenried die Lokbesatzung. Die Befreiung war gelungen, aber für die ehemaligen Häftlinge war die Situation immer noch sehr gefährlich. Sie fürchteten Übergriffe deutscher Einheiten, die sich auf dem Rückzug befanden. Die französischen Truppen, die am 23. April 1945 nachmittags in Schussenried ankamen, hatten Verständnis für ihre Situation. Sie bewaffneten einen Teil der Häftlinge und duldeten, dass sie die Ortsverwaltung übernahmen. Walter Hermanutz: „Zur persönlichen Sicherheit wurden 100 polnische KZ-Häftlinge mit Waffen versorgt. Die Stadt Bad Schussenried wurde aufgefordert, Unterkünfte bereitzustellen. Nicht alle Häftlinge überlebten die Zeit nach der Befreiung. Bis heute legen Gräber auf dem Friedhof in Schussenried Zeugnis davon ab.
Der Einsatz in Biberach betraf nur die Wochen vom 5. bis 22. April 1945. Er fiel in die Zeit des Zusammenbruchs. Das Schicksal der Männer und ihre Hilfe für die Stadt Biberach sollten nicht vergessen werden.