Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Israel feiert Unabhängigkeit
Zeremonien zum 70. Jahrestag – Palästinenser protestieren
TEL AVIV (dpa) - Israel feiert von heute Abend an seinen 70. Unabhängigkeitstag. Bei einer zentralen Zeremonie auf dem Herzl-Berg in Jerusalem sollen Fackeln entzündet werden, anschließend wollen Menschen landesweit und in jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt das Lied „Hallelujah“singen. Mit dem Lied hatte Israel 1979 den Eurovision Song Contest gewonnen. Das Motto der Feierlichkeiten lautet „Erbe der Innovation“. Die Feiern dauern 70 Stunden. Während des Sabbats gibt es eine Pause. Der Staat Israel wurde am 14. Mai 1948 ausgerufen, feiert sein 70. Jubiläum allerdings nach dem hebräischen Kalender. Deshalb beginnen die Feiern am 18. April.
Für die Palästinenser bedeutet Israels Freudentag eine Katastrophe, weil damals Hunderttausende fliehen mussten. Sie begehen das Ereignis mit sechswöchigen Protesten, die bis 15. Mai dauern. Hierbei gab es bereits Tote und Verletzte.
ZOR’A - 70 Jahre sind vergangen seit der Gründung des Staates Israel. Genauso alt wird der Kibbuz Zor’a, der im Jahr der Staatsgründung anstelle eines zerstörten palästinensischen Dorfes entstand. Die jüdischen Bewohner wollten lange Zeit nichts von der Vorgeschichte wissen. Bis einer aus ihrer Mitte, der Filmemacher Michael Kaminer, sie damit konfrontierte. Weil nach seiner Meinung eine „Versöhnung nur gelingen kann, wenn beide Seiten das Narrativ der anderen anerkennen“.
Schon als Bub weckte das verlassene Steinhaus oben auf dem Hügel die Neugierde von Michael Kaminer. Wie die anderen Kinder aus dem Kibbuz liebte auch er es, auf dem felsigen, von Kakteen und Ruinen gesäumten Gelände Versteck zu spielen. Aber viel Zeit sollte noch verstreichen, bis er begann, kritische Fragen zu stellen, was dort einmal war, bevor der Kibbuz Zor’a 1948, im gleichen Jahr wie der Staat Israel, gegründet wurde. Heute, sagt Kaminer, verstehe er besser, „warum die Kibbuz-Pioniere uns nie davon erzählt haben“. An diesem Tabu mochten weder seine Lehrer noch die alten Zeitzeugen rühren. Einige aus der Gründergeneration hat der 53-Jährige interviewt. Gemeinsam sind sie über den bewaldeten Hügel spaziert, einer der ersten Anstiege von der Tel Aviver Küstenebene rauf nach Jerusalem. Nur wenige Überreste, die aus dem Gestrüpp lugen, künden davon, dass sich an den Hang früher kleine palästinensische Bauerhäuser mit Kuppeldach schmiegten. „Das Dorf wurde komplett niedergemacht“, hat ihm Aaron Nadler, einer der Pioniere, erzählt. Schuldig fühle er sich deshalb nicht. Im 1948er-Krieg sei es „um unsere Existenz“gegangen, hat eine Frau aus Zor’a beigepflichtet. „Um wir oder sie.“
Für die frühen Kibbuzniks in Zor’a war der Anfang noch ein Überlebenskampf gewesen. Sie hatten in der Harel-Brigade gedient, waren kaum älter als 18 Jahre, als sie vor die Wahl gestellt wurden, entweder weiter Militärdienst zu leisten oder sich auf dem eroberten Bergkegel anzusiedeln. Ein paar Holzbaracken waren schnell errichtet, gruppiert um jenes stattliche Gebäude aus festem Stein, das ihnen zunächst als Gemeinschaftszentrum diente.
Es gehörte dem Muchtar Abdullah Abu Latifa, seines Zeichens Bürgermeister des arabischen Dorfes Sar’a, das während des israelischen Unabhängigkeitskrieges am 15. Juli 1948 zerstört worden war. Ein Widerstandsnest war es nie gewesen. Aber so genau mochte das niemand wissen. Man wollte nach vorne schauen in einem eigenen jüdischen Staat.
Nur hatten längst nicht alle 400 Bewohner, die aus Sar’a geflohen waren, das Weite gesucht. Viele harrten in einer Polizeikaserne aus, die die
Briten mit dem
Ende ihres Mandats aufgegeben hatten, und hofften auf Rückkehr.
Fast täglich kamen sie, um nach zurückgelassenen Habseligkeiten und ihrem Vieh zu suchen.
Doch nun waren die Israelis Herren des Landes. Sie hatten den Landkorridor nach West-Jerusalem freigekämpft, so wie sie sich an vielen Fronten gegen feindliche Truppen aus fünf arabischen Staaten behaupten mussten. Alsbald bürgerte sich ein neuer Name für die ehemalige Residenz des Muchtars ein: „Jimmys Haus“, benannt nach einem Soldaten, der 1948 dort übernachtet hatte, bevor er am nächsten Tag starb.
Innovativer Geist
70 Jahre ist das her. Genauso alt wird nun Israel, das eine Menge Gründe hat, stolz auf sein rundes Jubiläum zu sein. Schließlich blickt es auf eine einmalige Erfolgsgeschichte zurück, die nach dem schlimmsten Kapitel der jüdischen Geschichte, dem Holocaust, an ein Wunder grenzt. Ihr innovativer Geist hat die Israelis zu einer weltweit bewunderten Hightech-Nation gemacht. Nur im Umgang mit Al-Nakba, wie die Palästinenser ihre 1948 erlebte Katastrophe von Flucht und Vertreibung nennen, verhält sich Israel wenig souverän. Es verbietet sogar per Gesetz, in Schulen und Universitäten darüber zu sprechen. „Schon wenn meine Kibbuz-Nachbarn das Wort Nakba hören“, seufzt Michael Kaminer, „fühlen sie sich angegriffen.“Er wolle bloß, dass das Thema nicht verschwiegen wird.
Eigentlich beschäme es ihn, dass er selber so lange gebraucht habe, sich für die palästinensische Vorgeschichte zu interessieren. Er lebt noch immer in Zor’a, in einem adretten Einfamilienhaus, um das sich Zierbüsche ranken. Seine Eltern waren 1964 in den Kibbuz unweit von Beit Schemesch gezogen, der bereits nach dem Waffenstillstand 1949 von der Anhöhe in die Talsenke verlagert worden war. Inzwischen haben die KibbuzMitglieder aus Zor‘a wie in den meisten Kibbuzim in Israel auch das Gleichheitsprinzip aufgegeben. Nur wenige arbeiten noch in der Landwirtschaft. Als Kaminer seine Kibbuz-Nachbarn zur Filmvorführung einlud, war der Saal voll. Alle wollten sehen, was er über ihre Geschichte gedreht hatte. Er solle den Streifen besser nicht außerhalb zeigen, meinten manche. „Ich war schon glücklich über die Diskussion“, sagt Kaminer. „Zum ersten Mal sprachen die Kibbuz-Mitglieder über das, was bis dahin verdrängt worden war.“Während der Filmaufnahmen sind sich erstmals auch israelische und palästinensische Zeitzeugen begegnet. Leicht fiel ihnen das nicht. In der Realität trennen sie Welten. Hier der gepflegte Kibbuz, dort das vernachlässigte Flüchtlingscamp Kalandia, wo jeder vierte der 12 000 Lagerbewohner ein Nachkomme aus dem palästinensischen Dorf Sar’a ist.
Daher gehört zu dieser Geschichte ein Abstecher nach Kalandia. Es liegt direkt am gleichnamigen Checkpoint, dem Nadelöhr zwischen Jerusalem und Ramallah. In einer der verwinkelten Gassen wohnen die 95-jährige Miriam Abu Latifa und ihre weitläufige Familie. Miriam Abu Latifa ist halbblind, aber noch hellwach im Kopf.
Detailreich schwärmt sie von ihrem verlorenen Heimatdorf, den Hochzeitsfeiern auf dem Platz in der Mitte. „Es war das beste Leben, wir bauten Gemüse und Getreide an, genug für uns selbst.“Auch habe man gute Beziehungen zu den Juden aus einem Nachbarort unterhalten. Doch dann, im Sommer 1948, rückte der Krieg mit Kanonendonner näher, eine israelische Bombe fiel auf das nahegelegene arabische Ramle. Gerüchte von Gemetzeln machten die Runde, weiß die Alte noch. „Um aus der Schusslinie zu kommen, sind wir weggelaufen.“Die damals 25-jährige Miriam, ihr Mann und das Baby auf dem Arm. „Aus der Ferne schauten wir mit an, wie die Israelis begannen, unser Dorf zu demolieren.“
Hoffnung auf Rückkehr
Sar’a blieb der Ort ihrer Sehnsucht. Erst nach dem Sechstagekrieg von 1967, als Israel die Grenzen aufmachte, sollte Abu Latifa ihn wiedersehen. So oft wie möglich ging sie hin, um Mandeln und Oliven zu pflücken. Manchmal erwischte sie ein Aufseher mit vollem Sack. Einmal musste sie gar eine Nacht in der Jerusalemer Polizeiwache verbringen. Aber sie fühlte sich im Recht. „Ich hatte mir ja nur die Früchte von unserem eigenen Land geholt.“
Mehrfach hat Miriam Abu Latifa auf Einladung auch den Kibbuz Zor’a besucht. „Ich habe dabei oft geweint“, sagt sie. Doch sie habe den Israelis zeigen wollen, „dass wir unsere Heimat nicht vergessen haben“. Sie jedenfalls halte an der Hoffnung auf Rückkehr und eine friedliche Zukunft fest. „Wenn nicht für mich, dann für meine Enkel und Urenkel.“
Wie das gehen soll, weiß auch Michael Kaminer nicht. Er ist überzeugt, dass eine Versöhnung nur möglich ist, wenn beide Seiten die Geschichte der anderen Seite anerkennt. An die 400 arabische Dörfer wurden im israelischen Befreiungskrieg zerstört. An ihrer Stelle entstanden zumeist jüdische Ansiedlungen oder Nationalparks. Vergebens hat die linke Organisation Zochroth unlängst Hinweistafeln angebracht, um eine Erinnerungskultur zu fördern. In aller Regel verschwanden sie über Nacht.