Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Tanz das Genom
Hohe Körperkunst zu elektronischen Beats: Wayne McGregor mit „Autobiography“beim Bregenzer Frühling
BREGENZ - 23 Chromosomenpaare stehen für 23 Stationen oder Begriffe oder Schlüsselsituationen eines (Tänzer-)Lebens: Wayne McGregor, der britische Choreograf, der Naturwissenschaft, Hirnforschung und andere Disziplinen in seine Kreationen miteinbezieht, stand am vierten Abend des Bregenzer Frühlings mit seiner im vergangenen Oktober uraufgeführten Produktion „Autobiography“im Mittelpunkt. Die zehn Tänzerinnen und Tänzer seiner Company zeigten über 80 Minuten hohe, begeisternde Tanzkunst – wie sie auf die DNA des Choreografen zu beziehen ist, bleibt allerdings ein Geheimnis.
In „Autobiography“definiert Wayne McGregor Leben als „die Summe deiner Eindrücke und Erfahrungen, die Summe dessen, was du liest oder worüber du nachdenkst und mit wem du zusammen bist.“Das Leben, das er selbst beschreibt, enthält Begegnungen, Einflüsse, Menschen, Stimmungen, Gefühle, Bücher, Bilder, Musik, die in einer speziellen Bibliothek mit Bewegungsmaterial vereint sind. 23 solcher Begriffe hat McGregor ausgewählt, entsprechend den Chromosomenpaaren des menschlichen Erbguts, sein eigenes Genom hat er entschlüsseln lassen. Daraus sind einzelne Szenen entstanden, die unverbunden nebeneinander stehen und deren Reihenfolge bei jeder Aufführung per Zufallsgenerator bestimmt wird.
Im Programmheft ist ein langer Text zu diesem Verfahren zu lesen, doch erhellend ist der nicht. Während der Aufführung werden die Nummern und Bezeichnungen der Szenen auch hoch oben am Bühnenportal eingeblendet („4 knowing“, „16 world“, „8 nurture“), doch ist es fast zufällig, ob man diese wahrnimmt oder dem Tanzgeschehen zuordnen kann. So bleibt dieser theoretische Ansatz einigermaßen rätselhaft, jede und jeder im Publikum kann vermutlich eine eigene Geschichte herauslesen oder das Ganze als Gesamtkunstwerk aufnehmen.
Klassisch-moderne Sprache
Denn unbestritten ist die hohe tänzerische Qualität der sechs Männer und vier Frauen, die sich allein, in Paaren, kleinen und größeren Gruppen auf der großen Bühne des Festspielhauses einfinden. Ein Metallgestänge, bestückt mit Scheinwerfern, schwebt als einziges Bühnenbildelement über dem Bühnenboden, wird unterschiedlich ausgeleuchtet, kann bedrohlich weit abgesenkt werden. Beleuchtung, Spots, Lichtblöcke, Scheinwerferstrahlen oder wechselnde Farben bilden Lichträume, in denen die Tänzer agieren.
Die Bewegungssprache des britischen Choreografen, der sowohl mit seiner eigenen Truppe als auch mit dem Royal Ballet London und Ensembles in aller Welt arbeitet (wie unlängst in München an der Bayerischen Staatsoper) ist erstaunlich klassisch-modern: weit ausgestreckt in die Dehnung, geschmeidig, auch akrobatisch mit Sprüngen, Hebungen und manchmal einer ungeheuren Dynamik sind die choreografischen Szenen geprägt von großer Ästhetik und Körperlichkeit. Da gibt es verschiedenste Paarbegegnungen – Männer, Frauen, gemischt – getragen von großer Zärtlichkeit und Intensität, Gruppen, die sich zusammenballen oder in denen jeder und jede einen eigenen Ausdruck findet, Aktivitäten voll spielerischen Witzes oder alptraumhafter Beklemmung. Der Deutungen gibt es viele!
Auch die schwarzen und weißen oder hautfarbenen Kleidungsstücke sind individuell und fantasievoll. Dazu hat die Elektronikmusikerin Jlin eine Komposition geschaffen, die sich mit dunklen Klangexplosionen, pulsierenden Beats, elektronischem Wimmern, Liegetönen oder nadelstichartigem Kreischen in die Gehörgänge des Publikums gräbt – was auf die Dauer von 80 Minuten allerdings recht heftig und nervtötend ist. Trotzdem war man gefangen von dieser intensiven Tanzperformance, der Jubel im Festspielhaus war wie immer groß!