Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Abstieg eines Papst-Vertrauten

Vatikan-Finanzchef Pell muss sich wegen Missbrauch­svorwürfen vor Gericht verantwort­en

- Von Christoph Sator

MELBOURNE (dpa) - Es gab Zeiten, da wurde George Pell als der nächste Papst gehandelt. 2005, nach dem Tod von Johannes Paul II., und 2013, nach dem überrasche­nden Rücktritt von Benedikt XVI., galt der Kardinal aus Australien als aussichtsr­eicher Kandidat für das höchste Amt der katholisch­en Kirche auf Erden. Daraus wurde nichts. Aber immerhin brachte es Pell im Vatikan zum Finanzchef, zur inoffiziel­len Nummer 3 des Kirchensta­ats, zu einem der engsten Vertrauten von Papst Franziskus.

Doch am Dienstag sitzt der 76-Jährige, von seinem Erscheinun­gsbild her immer noch ein mächtiger Mann, sehr still im Amtsgerich­t von Melbourne. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, Kollar, die Arme verschränk­t, keine Regung. Der Blick geht auf den Boden. Soeben hat Richterin Belinda Wallington dem Kurienkard­inal eröffnet, dass ihm wegen des Verdachts, vor Jahrzehnte­n einige Jungen sexuell missbrauch­t zu haben, der Prozess gemacht wird.

Die Kirchenkar­riere ist vorbei

Zum Ende fragte sie Pell: „Schuldig oder nicht?“Jetzt muss der Kardinal, der in den monatelang­en Vorprüfung­en stets geschwiege­n hatte, doch etwas sagen. Er bleibt sitzen, belässt es bei zwei Wörtern. „Nicht schuldig.“Aber ob so oder so: Mit der jetzigen Entscheidu­ng ist seine Kirchenkar­riere vorbei. An eine Rückkehr ins alte Amt nach Rom, wo er vor mehr als einem halben Jahrhunder­t im Petersdom zum Priester geweiht wurde, glaubt niemand mehr.

Pell wird als ranghöchst­er Geistliche­r der katholisch­en Kirche in die Geschichte eingehen, der wegen Missbrauch­svorwürfen vor Gericht kommt. An diesem Mittwoch schon beginnt der Prozess, wieder in Melbourne, wo er einst Erzbischof war, im Gebäude gegenüber. Die Entscheidu­ng liegt dann in der Hand eines Richters und einer Jury aus zwölf Geschworen­en. Vermutet wird, dass sich das Verfahren über viele Monate hinziehen wird. Möglicherw­eise werden auch mehrere Jahre daraus. Jedenfalls dürfte sich die Suche nach der Wahrheit komplizier­t gestalten. Die Vorwürfe reichen weit in die Vergangenh­eit zurück – in die Zeit, als Pell in seiner Heimatstad­t, der Bergbaugem­einde Ballarat, noch einfacher Priester (1976 bis 1980) und später dann Erzbischof in Melbourne (1996 bis 2001) war.

Richterin Wallington stellte in der Hälfte der Fälle das Verfahren ein, weil die Vorwürfe nicht glaubwürdi­g genug waren. In neun Fällen ließ sie die Anklage zu. Die Justiz hat sich bislang noch nicht im Detail dazu geäußert, was dem Kardinal vorgeworfe­n wird. Bekannt war eine Beschwerde, wonach er 1978 im Kino von Ballarat einen Jungen belästigt haben soll, als sich die beiden angeblich den StevenSpie­lberg-Klassiker „Unheimlich­e Begegnung der dritten Art“zusammen anschauten. Dieser Fall wird nun nicht weiter verfolgt. Die Zeit in Melbourne wird vor Gericht jedoch Thema werden. In einem Buch namens „Cardinal“ist die Rede davon, dass Pell zwei Männer in der dortigen St.-Patrick's-Kathedrale zu sexuellen Handlungen gezwungen haben soll. Auch die Beschwerde über einen Vorfall mit zwei Jungen in einem Schwimmbad wird behandelt. Sein Anwalt Robert Richter tat all das als „Produkte der Fantasie, psychische­r Probleme oder reine Erfindunge­n“ab. Aus Sicht der Verteidigu­ng soll Pell zum Sündenbock für die Verfehlung­en von Australien­s katholisch­er Kirche gemacht werden.

Davon gibt es viele. Eine staatliche Kommission fand heraus, dass zwischen 1950 und 2015 in Australien Zehntausen­de Kinder Opfer sexueller Gewalt wurden – meist in Einrichtun­gen der Kirche. Allein aus Pells Heimatgeme­inde Ballarat sagten 139 Leute aus, sexuell missbrauch­t worden zu sein. Von den 21 Tätern waren 17 Priester. Pell, so die Kommission, war zumindest an Vertuschun­g beteiligt. Auf seinen späteren Stationen wurde ihm immer wieder vorgeworfe­n, zu wenig gegen sexuellen Missbrauch unternomme­n zu haben.

Rückschlag für Franziskus

Für Papst Franziskus bedeutet die Anklage gegen seinen Vertrauten einen Rückschlag. Der Argentinie­r hat immer wieder bekräftigt, in Sachen Missbrauch ein „Null-Toleranz-Prinzip“zu verfolgen. Trotzdem sieht sich die katholisch­e Kirche weiter dem Vorwurf ausgesetzt, Fälle von Kindesmiss­brauch zu vertuschen. Über allem steht die Frage, ob Franziskus nun personelle Konsequenz­en zieht und Veränderun­gen vorantreib­t. Die Erwartunge­n sind groß.

Als sicher gilt, dass der Papst bald einen Nachfolger berufen wird. Einstweile­n, so stellte der Vatikan am Dienstag klar, bleibt er als Finanzchef jedoch nur beurlaubt. Trotz der Anklage ist Pell weiterhin auf freiem Fuß, gegen Kaution. Seinen Reisepass musste er allerdings abgeben. Solange der Prozess dauert, kann der Kurienkard­inal also nicht zurück in den Vatikan. Er lebt nun in seiner alten Heimat in einem Priesterse­minar.

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FOTO: DPA Kurienkard­inal George Pell betonte am Dienstag vor Gericht seine Unschuld.

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