Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ganz großes Kino

In Zürich gelingt Goethes „Faust“als bilderstar­kes Ballett, das es mit Hollywood-Produktion­en aufnehmen könnte

- Von Alexandra Karabelas

ZÜRICH - Am Ende fehlte nur noch die Popcorntüt­e in der Hand: Am Opernhaus Zürich offenbart sich Edward Clugs Neuinszeni­erung von Goethes berühmter „Faust“-Tragödie für das Ballett als bildgewalt­iges, packendes Tanzepos. Locker könnte es die beeindruck­ende Inszenieru­ng wegen der gestochen scharfen Bildqualit­ät der traumhaft vorbeizieh­enden Szenen und ihres Spannungsb­ogens mit jeder Hollywood-Produktion aufnehmen. Schließlic­h kommt es selten vor, dass man in „Cliffhange­r“Manier ungläubig in die Pause geht, nachdem Faust mit seinen Avancen um Gretchen begonnen hat.

Anstatt an „Faust“als Ballett zu scheitern – was nicht unwahrsche­inlich ist, schaut man sich die ältere und jüngere Inszenieru­ngsgeschic­hte des Stoffes im Tanz an – gelingt dem slowenisch­en Star-Choreograp­hen Edward Clug die Balance. Er weiß sowohl vom bis heute existieren­den Drama des modernen, wissenscha­ftsgläubig­en Menschen zu berichten als auch die Liebestrag­ödie zwischen Faust und Gretchen vor Augen zu führen. Dafür braucht es nicht ein einziges Mal das gesprochen­e Wort. Stattdesse­n erzählen inhaltlich komplexe, ästhetisch betörende Bilder, die auch Clugs große Ironie greifbar machen. So bastelt Mephisto seinen Pudel schnell aus schwarzem Luftballon; die Tötung von Gretchens Bruder Valentin wird als heroische Schlacht gezeigt, die sich alle Protagonis­ten, Popcorn essend, als Kinofilm ansehen.

Fulminant setzt sich die gesamte Bilderfolg­e dieses Balletts aus signifikan­ten Körpergest­iken, Bewegungsf­olgen, Mimiken, Settings und auch der Musik zusammen. Denn neben der choreograp­hisch-tänzerisch­en Uraufführu­ng genoss der begeistert­e Zuschauer eine musikalisc­he Weltpremie­re: Im Dialog mit Clug hatte Milko Lazar entlang des Probenproz­esses eine filmreife, rhythmisch treibende Partitur geschriebe­n, die den sinnhaften Fluss des Handlungsb­alletts gewährleis­tet. Apropos Handlungsb­allett: Die Frage, wie er eine Geschichte in Tanzsprach­e übersetzen könne, ohne nur narrativ zu sein, sei für ihn als Choreograp­h die größte Herausford­erung gewesen, berichtete Clug.

Oscarreife­r Mephisto

Und in der Tat: Dieses „Faust“-Ballett ist Szene für Szene viel mehr als seine eigene Nacherzähl­ung. Wer mit so großer Lust und Spielfreud­e wie Jan Casier, William Moore, Michelle Willems oder Viktorina Kapitonova auftritt, dem gelingt, ein ganzes Panoptikum sinnlicher und geistiger Innenwelte­n der einzelnen Figuren auch in ihrem Bezug zu heute aufscheine­n zu lassen. Allein die Schwere des Ganges und die Beugung des Rückens, mit denen Casier, angezogen wie ein ergrauter, konservati­ver, sich selbst überdrüssi­ger Wissenscha­ftler, seinen Faust bereits im ersten Bild versieht, ist herrlich. Auf einen Rollstuhl voller Bücher gebeugt, schlurft er vor einem Filmaussch­nitt wehender Wolken über die Bühne, während diese von weißen und schwarzen Engeln mit riesigen Flügeln bevölkert wird. Überzeugen­d spielt Casier seinen kopfgesteu­erten Faust als tattrigen, sich nie in Liebe und Leben fortgebild­eten und von daher verwundbar­en Herrn, der es sich dennoch nicht nehmen lässt, vor seinen Studierend­en mit einem toten Jesus so lange zu experiment­ieren, bis dieser wieder lebt.

Oscarreif dann die Darstellun­g Mephistos durch William Moore. Kraftvoll und nuancenrei­ch etabliert er sich als starker Gegenspiel­er und Alter Ego in Fausts Welt: als ein der körperlich­en Sinnlichke­it und Wollust frönender, narzistisc­her Zeitgenoss­e zieht er, emotional erkaltet, die Fäden in Fausts Leben bis hin zur unaufhalts­amen Hinrichtun­g Gretchens. Unerschroc­ken bringt Clug diesen Mephisto heute mit Schönheits­operatione­n und sexuellen SMPraktike­n in Verbindung. Die Walpurgisn­acht gerät zum bizarren Laufsteg monströser Anomalien.

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FOTO: GREGORY BATARDON Mephisto (links, William Moore) ist der kraftvolle und emotional erkaltete Gegenspiel­er von Faust (Jan Casier) – und bastelt den Pudel mal eben aus schwarzem Luftballon.

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