Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Weltweit 176 Journalisten in Haft
Politiker, Menschenrechtler und Wissenschaftler auch über Entwicklung in Europa besorgt
RAVENSBURG/BERLIN - Zum heutigen Tag der Pressefreiheit zeigen sich Politiker, Menschenrechtler und Wissenschaftler besorgt. Sogar in Ländern, in denen die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert ist, komme es vermehrt zu Einschränkungen. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) sieht deswegen auch die europäischen Regierungen in der Pflicht. Die Freiheit kritischer öffentlicher Stimmen sei ein sicherer Gradmesser für den Zustand einer Demokratie, sagte die CDU-Politikerin am Mittwoch in Berlin. Jede Regierung, die sich der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verpflichte, müsse „alles für einen freien und unabhängigen Journalismus tun, um glaubwürdig zu sein“.
Weltweit sitzen nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen derzeit 176 Journalisten in Haft, im globalen Vergleich habe sich die Pressefreiheit 2017 in Europa am gravierendsten verschlechtert, etwa in Bulgarien, Polen und der Slowakei. „Die Pressefreiheit als Teil der Demokratie ist dort noch nicht gefestigt. Wir erleben in vielen Ländern Osteuropas, dass Journalisten von höchsten Regierungsstellen diffamiert werden“, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, der „Schwäbischen Zeitung“. In der Türkei sei die Situation „genauso schlecht wie vor einem Jahr“. Die Freilassung des „Welt“Korrespondenten Deniz Yücel habe daran nichts geändert. Mihr weiter: „Knapp 130 Journalisten sind in der Türkei noch in Haft, 150 Medientitel sind geschlossen worden, 800 Journalisten haben ihre Arbeit verloren.“
Ähnlich äußerte sich Amnesty Internationals Europa-Expertin Janine Uhlmannsiek: „Die Pressefreiheit in der Türkei liegt seit fast zwei Jahren in Ketten.“Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte nach dem Putschversuch im Juli 2016 den Ausnahmezustand ausgerufen und somit Grundrechte eingeschränkt.
RAVENSBURG - Auch in Europa ist die Pressefreiheit in Gefahr – durch den Einfluss aus Politik und Wirtschaft. Das sagte Christian Mihr, Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen, anlässlich des heutigen Tages der Pressefreiheit im Gespräch mit Daniel Hadrys.
Herr Mihr, die aktuelle Rangliste der Pressefreiheit zeigt, dass sich in Europa die Situation für Journalisten massiv verschlechtert hat. Was sind die Gründe dafür?
Wir beobachten ein Ost-West- und ein Nord-Süd-Gefälle in Europa. Einige der östlichen Länder sind noch nicht lange Mitglied der Europäischen Union. Die Pressefreiheit als Teil der Demokratie ist dort noch nicht gefestigt. Wir erleben in vielen Ländern Osteuropas, dass Journalisten von höchsten Regierungsstellen diffamiert werden. Gleichzeitig gibt es dort sehr oligarchische Medienstrukturen mit einer Verflechtung von Unternehmens-, Politik- und Wirtschaftsinteressen.
In welchen europäischen Ländern ist die Situation besonders prekär?
In Bulgarien sind die Verflechtungen zwischen Medien, Politik und Wirtschaft sehr eng. Journalisten werden dort massiv bedroht, es gibt zum Teil auch unaufgeklärte Morde. Das größte Problem in Bulgarien ist, dass 80 Prozent des Zeitungsmarktes Deljan Peewski gehören, einem ehemaligen Geheimdienstchef. Er ist jetzt Mitglied des bulgarischen Parlaments und in zahlreiche Korruptionsund Bestechungsskandale verwickelt. Auch in Malta und der Slowakei wurden Journalisten ermordet. Das sind die größten Sorgenkinder der EU.
Ein weiteres Sorgenkind ist seit Jahren die Türkei. Wie hat sich die Lage dort entwickelt?
Die Situation ist genauso schlecht wie vor einem Jahr. Die Freilassung des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel hat daran gar nichts verändert, sie war ausschließlich ein politisches Signal an die deutsche Regierung, aber nicht nach innen gerichtet. Knapp 130 Journalisten sind in der Türkei noch in Haft, 150 Medientitel sind geschlossen worden, 800 Journalisten haben ihre Arbeit verloren. Zudem sind viele von ihnen im Exil. Die Türkei ist das Land, indem wir am meisten Hilfsarbeit und juristische Unterstützung betreiben.
Vor welchen Problemen stehen Journalisten in Deutschland?
In der Rangliste der Pressefreiheit ist Deutschland auf Platz 15, das ist europäisches Mittelfeld. Hierzulande besorgt uns die anlasslose Massen- überwachung, die ausufert durch den Bundesnachrichtendienst und Vorratsdatenspeicherung. Die Vorratsdatenspeicherung ist zwar derzeit ausgesetzt, Bemühungen dafür gibt es aber immer wieder. Die Massenüberwachung ist deshalb problematisch, weil man in Kauf nimmt, dass das wichtige journalistische Prinzip des Quellenschutzes unter die Räder kommt. Im Vergleich zu anderen Ländern hat Deutschland zudem ein Luxusproblem: Die abnehmende Medienvielfalt. In Deutschland haben wir traditionell eine hohe Medienvielfalt, gerade auf dem Zeitungsmarkt. Sie ist ein wichtiger Faktor für Pressefreiheit. Denn durch Vielfalt bekommen wir unterschiedliche Sichtweisen auf die Probleme einer Gesellschaft, sowie Diskussionen und Debatten.
Kommt es in Deutschland auch zu Gewalt gegen Journalisten?
In einigen Teilen des Ruhrgebiets können Reporter, die über rassistische Gewalt berichten, teilweise nur unter Polizeischutz arbeiten. Das ist auch in einigen ostdeutschen Regionen der Fall. Dort trauen sich einige Journalisten nicht, auf Pegida- oder AfD-Kundgebungen zu gehen. Eine Eskalation der Gewalt hat es im vergangenen Jahr beim G20-Gipfel in Hamburg gegeben.
Wo fängt für Sie eine Einschränkung der Pressefreiheit an?
Selbstzensur beginnt im Kleinen, wenn Anzeigenkunden Einfluss nehmen. Das ist aber nicht vergleichbar mit Einschüchterung durch Todesschwadrone in Mexiko oder auf den Philippinen.
Wozu können Zensur und Gleichschaltung der Medien führen?
Einerseits finden Debatten nicht mehr statt, die eine Gesellschaft dringend braucht. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Grad an Pressefreiheit und dem Grad an Korruption. Durch weniger Pressefreiheit haben wir auch weniger gesellschaftliche Freiheit und gesellschaftlichen Fortschritt. Eine Gesellschaft soll um die besten Lösungen ringen, und Medien bieten die Plattform dafür.
US-Präsident Donald Trump bezeichnet Journalisten als „Volksfeinde“– welchen Schaden richtet diese Rhetorik eines demokratisch gewählten Volksvertreters an?
Diejenigen, die den Medien nicht grundsätzlich kritisch gegenüberstehen, lassen sich davon nicht beeinflussen. Das Problem liegt eher in Echokammern (in denen sich Menschen mit Gleichgesinnten umgeben und sich gegenseitig in der eigenen Position verstärken, anstatt andere Medien zu nutzen, d. Red.), online wie offline. Dort verstärkt sich das Misstrauen gegenüber den klassischen Medien. Schlimmer ist vielmehr, dass sich die autoritären Herrscher von Russland bis zu den Philippinen und Singapur durch Reden wie jene von Trump auf den Präsidenten einer Demokratie berufen, wenn sie Journalisten massiv einschränken. Gleichzeitig erlebt der Recherchejournalismus in den USA eine Blütezeit – auch wegen Donald Trump.
Und was ist mit den Pegida- und AfD-Anhängern, die Reporter als Teil einer „Lügenpresse“sehen?
Der Begriff der „Lügenpresse“ist natürlich ein Problem. Dabei ist das Misstrauen gegenüber den Medien in Deutschland gar nicht so stark gewachsen. Durch soziale Netzwerke wie Facebook werden bestimmte Arten von Kritik und Misstrauen allerdings sichtbarer und verstärken sich – aber nicht unbedingt offline.
Glauben Sie also, dass sogenannte „Fake News“keinen Einfluss auf die Glaubwürdigkeit und das Ansehen der klassischen Medien haben?
Den Begriff sollte man ohnehin komplett vergessen. Donald Trump hat ihn im Wahlkampf benutzt, um Journalisten pauschal zu diffamieren. Der Begriff hat sich erledigt, seitdem der syrische Präsident Baschar al-Assad Berichte über Folter in Gefängnisse als „Fake News“bezeichnet hat.