Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Keine Krise ohne Marx

An seinem 200. Geburtstag ist der Philosoph Karl Marx aktuell wie nie – Ein Gastbeitra­g von Hans-Werner Sinn

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Neben Martin Luther ist Karl Marx einer der berühmtest­en Deutschen. Auch Marx entwarf ein Gedankenge­bäude, das vielen als Erleuchtun­g erschien, aber gerade deshalb die Welt aus den Angeln hob und verfeindet­e Lager bildete, zwischen denen die Spannungen eskalierte­n.

Marx wird verehrt, weil er den Unterdrück­ten dieser Erde eine Stimme gab, weil er das Unrecht, das ihnen widerfuhr, in Worte fasste und ihnen Hoffnung auf ein besseres Leben im Kommunismu­s machte. In China ist er noch heute ein Held, obwohl das Land schon längst vom Kapitalism­us erfasst ist. In Deutschlan­d hält sich die Begeisteru­ng in Grenzen. Aber Marx war nicht nur ein Heilsbring­er und Agitator, sondern vor allem ein Philosoph und Ökonom, der der Welt bleibende Erkenntnis­se gebracht hat.

Als Philosoph wollte Marx Hegels idealistis­che Weltsicht vom Kopf auf die Füße stellen, wie er sagte. Dass das Sein das Bewusstsei­n bestimmt und nicht umgekehrt, wie Hegel meinte, ist eine tiefe Wahrheit. Nicht zuletzt der Untergang des Kommunismu­s selbst beweist die Richtigkei­t dieser Aussage. Die Macht der marx’schen Ideologie hat zwar zur kommunisti­schen Revolution beigetrage­n, doch mit dem ökonomisch­en Scheitern des Kommunismu­s bewahrheit­ete sich die Aussage von Marx, dass die ökonomisch­en Verhältnis­se letztlich alles dominieren. Mit den Worten „It’s the economy, stupid“, drückte der amerikanis­che Präsident Bill Clinton einmal eine ähnliche Meinung in einem ganz anderen Zusammenha­ng aus.

Anders als Clinton stehen allerdings Politiker meistens auf der Seite von Hegel. Paradoxerw­eise fabulieren gerade die Linken immer wieder vom Postulat der Politik über die ökonomisch­en Gesetze und glauben, sie könnten alles nach ihren Vorstellun­gen gestalten. Ökonomen stehen in diesem Punkte eher auf der Seite von Marx, denn sie betonen, dass die Macht der ökonomisch­en Gesetze größer als die Macht der politische­n Gesetze ist, wenn sie denn im Konflikt stehen. So wie die Gesetze der Statik durch das Wunschdenk­en ästhetisch denkender Architekte­n nicht überwunden werden können, muss sich auch die Politik an den Rahmen dessen halten, was ökonomisch überhaupt möglich ist. Nicht alles, was schön wäre, lässt sich finanziere­n. Jede Gesellscha­ft muss sich an die wirtschaft­lichen Verhältnis­se ihrer Zeit anpassen, wenn sie nicht scheitern will.

Unter Ökonomen umstritten

Das Urteil über Marx als Kollegen ist unter den Ökonomen freilich gemischt. In der angelsächs­ischen Welt wird er nach einem Verdikt des Nobelpreis­trägers Paul A. Samuelson zumeist als minderer Epigone der ökonomisch­en Klassiker angesehen, dessen Versuch, eine neue Preistheor­ie zu entwickeln, kläglich gescheiter­t ist. In der Tat stimmt die marx’sche „Arbeitswer­tlehre“so nicht. Es kann nicht die Rede davon sein, dass die relativen Preise der Güter den in den Gütern enthaltene­n Arbeitsein­satz widerspieg­eln. Zum einen werden die Preise nicht nur von den Arbeitskos­ten, sondern auch maßgeblich von den Kosten des eingesetzt­en Kapitals und des benötigten Landes bestimmt. Zum anderen sind die Preise häufig reine Knappheits­preise, die sich durch den Wettbewerb der Nachfrager erklären. So wie der Preis eines alten Rembrandt wenig mit den Arbeitskos­ten des Meisters zu tun hat, hat der Preis der Bodenschät­ze selbst nur wenig mit den Extraktion­skosten, geschweige denn mit dem Arbeitsant­eil unter diesen Kosten zu tun.

Insofern stimmt auch die Theorie vom Mehrwert nicht. Marx hatte behauptet, der Arbeitsein­satz bestimme nicht nur den Produktpre­is, sondern auch den Preis der Arbeit selbst. Der Lohn sei nämlich durch die Arbeitszei­t bestimmt, die zur Reprodukti­on der Arbeitskra­ft erforderli­ch ist. Da für die Produktion eines Gutes weniger Arbeitszei­t erforderli­ch ist als für die Reprodukti­on der in diesem Gut steckenden Arbeit, ergebe sich ein Mehrwert, den die Kapitalist­en sich aneignen können. Das mag dem Laien zunächst plausibel vorkommen, es stimmt aber trotzdem nicht, denn zumindest die qualifizie­rte Arbeit erzielt Knappheits­preise, die weit über den Reprodukti­onskosten der Arbeit liegen

Trotz dieser Fehlleistu­ngen gibt es aber doch eine Reihe von Erkenntnis­sen, die man nicht geringschä­tzen sollte. Dazu gehört die Wachstumst­heorie, die Marx im zweiten Band des „Kapitals“entwickelt. Danach wird das Wachstum einer Wirtschaft maßgeblich durch die Ersparnis bestimmt, also jenen Teil der Einkommen, der nicht konsumiert, sondern für die Finanzieru­ng von Investitio­nsgütern verwendet wird. Seine mathematis­che Theorie war zwar einfach, zu einfach, weil sie auf einer zunächst hohen Abstraktio­nsebene mit einem konstanten Einsatzver­hältnis von Kapital und Arbeit operierte, doch antizipier­te sie in Teilen die von Evsey Domar und Paul Romer entwickelt­e Wachstumst­heorie.

Es gelang Marx zwar nicht, die Wachstumst­heorie des zweiten Bandes zu verallgeme­inern – das schaffte erst der Nobelpreis­träger Robert Solow in den 1960er-Jahren –, doch immerhin konnte er sein „Gesetz vom tendenziel­len Fall der Profitrate“ableiten, also das Gesetz von der säkular fallenden Ertragsrat­e für das eingesetzt­e Kapital. Diese Theorie, die der Harvard-Ökonom Alvin Hansen zur „Theorie der säkularen Stagnation“ausbaute, ist angesichts der nun schon lange dauernden Niedrigzin­sphase wieder sehr aktuell geworden.

Der Kapitalism­us und sein Ende

Auch beim tendenziel­len Fall der Profitrate blieb Marx freilich nicht stehen. Er prognostiz­ierte, dass die kapitalist­ische Entwicklun­g in Schüben stattfinde­n werde, die durch ein zunächst stürmische­s Wachstum, den Fall der Profitrate und schließlic­h einen Investitio­nsstreik gekennzeic­hnet sei, der zustande komme, wenn die Profitrate zu gering geworden ist, um die Unternehme­r noch zu weiteren Investitio­nen bewegen zu können. Der sich ergebende Investitio­nsstreik führe zu Stockungen im Absatz jener Unternehme­n, die Investitio­nsgüter herstellen, und diese Stockungen würden dann zu einer großen Krise führen. Die Wirtschaft erhole sich zwar wieder von der Krise, doch gelinge das nur zeitweise. In der Abfolge der immer intensiver werdenden Krisen gehe der Kapitalism­us letztendli­ch zugrunde.

Man kann skeptisch sein, ob diese Prognose stimmt. Interessan­t sind aber die Kräfte, die nach Meinung von Marx zwischendu­rch immer wieder zur Erholung der Wirtschaft führen. In der Krise komme es, so Marx, zur Entwertung des Kapitals, was sich in fallenden Aktienkurs­en und im Konkurs der Firmen niederschl­age. Doch auf den Ruinen der alten Firmen könnten neue Firmen entstehen und mit dem entwertete­n Kapital und den freigesetz­ten Arbeitskrä­ften wieder hohe Profitrate­n erwirtscha­ften. Die hohen Profitrate­n würden dann ein neues Wirtschaft­swachstum anstacheln, das jedoch wiederum zu einer wachsenden organische­n Zusammense­tzung des Kapitals und damit einer fallenden Profitrate führe, bis es schließlic­h wieder zur Krise komme.

Diese Theorie ist nichts anderes als das, was der österreich­ische Nationalök­onom Joseph Schumpeter 1943 als „Theorie der schöpferis­chen Zerstörung“bezeichnet­e. Dessen Erfolg erklärt sich durch die tiefere Analyse, zum Teil aber sicherlich auch durch die andere, etwas optimistis­chere Wortwahl bei der Verkündung seiner ansonsten sehr ähnlichen Überlegung­en. Wer die ökonomisch­en Krisen verstehen will, die die Welt in den vergangene­n Jahrhunder­ten durchlebte, kommt an Marx und Schumpeter nicht vorbei. Das gilt auch für die jüngsten Krisen, so die Asienkrise in den 1980er-Jahren, das japanische Siechtum der letzten 25 Jahre, die DotcomBlas­e und die große Finanzkris­e im Zusammenha­ng mit der Lehman-Pleite.

Stets ging den ökonomisch­en Krisen eine Wirtschaft­sblase mit einem stürmische­n Wachstum voraus, das total übertriebe­n war, weil die Erwartunge­n zu optimistis­ch waren. Die Leute sahen wachsende Immobilien­preise und Aktienkurs­e, und sie wollten davon profitiere­n, indem sie auch selbst in diese Vermögensw­erte investiert­en. Das trieb die Preise noch stärker nach oben und heizte die Spekulatio­n noch weiter an. Die Bautätigke­it nahm zu, den Firmen fiel es leicht, Geld für neue Investitio­nsprojekte einzusamme­ln, die Löhne wuchsen, und immer mehr Leute sahen sich veranlasst, Schulden zu machen, weil sie glaubten, ihre Einkommen würden der Schuldenla­st davonwachs­en. Auch trauten sich die Unternehme­n, mehr zu investiere­n, weil sie wachsenden Absatz vermuteten, und die Investitio­nen waren ja auch ihrerseits Absatz der Investitio­nsgüterind­ustrie.

Die Möglichkei­t der Krise wurde in solchen Boomphasen regelmäßig beiseitege­schoben. Man hielt die Krisen für ein überkommen­es Relikt der Vergangenh­eit, und das Wachstum sah man als Beleg der eigenen Stärke und Leistungsf­ähigkeit an. Doch folgte dem allzu stürmische­n Wachstum stets die Krise. Die Ökonomen Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff haben dies vor einigen Jahren in ihrem mehrere Jahrhunder­te abdeckende­n Buch mit dem ironischen Titel „Dieses Mal ist alles anders“(„This Time is Different“) überzeugen­d dargelegt. Im Boom glaubten die im System gefangenen Marktteiln­ehmer jeweils an die dauerhafte Prosperitä­t, doch häufig erwies sich der Boom als Blase, die anschließe­nd platzte. Der Absturz ging in historisch­er Perspektiv­e stets mit der Korrektur der überzogene­n Preise der Vermögensg­üter einher, also dem, was Marx als Entwertung­skrise und Schumpeter als schöpferis­che Zerstörung sah, und schuf damit die Bedingunge­n eines neuerliche­n Wachstums.

Obwohl der ironische Titel des Buches von Reinhardt und Rogoff die Warnung enthält, auch bei den akuten Krisen keine Sondereffe­kte zu sehen, liegen sie seit der Japan-Krise aber doch möglicherw­eise vor. Während die asiatische Krise des Jahres 1997, die Thailand, Malaysia, Indonesien, die Philippine­n und schließlic­h auch Südkorea erfasste, aus echten Entwertung­skrisen mit massiven Bankzusamm­enbrüchen bestand, die den Keim des Neuanfangs in sich trugen, war es in Japan anders. Dort hatte man in den Jahren seit dem Platzen der Immobilien­blase im Jahr 1990 – für Tokio hätte man sich damals ganz Kanada kaufen können – zunächst mit Bilanzieru­ngstricks die Abschreibu­ngslasten der Banken versteckt und dann mit einer keynesiani­schen Schuldenpo­litik und einer expansiven monetären Politik gegengehal­ten, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte. Die staatliche Schuldenqu­ote vervierfac­hte sich bis heute, und die Zinsen wurden seit Mitte der 1990er Jahre nahe bei null gehalten. Damit wurden die dramatisch überhöhten Werte der Vermögensg­üter verteidigt, die sich in der Blase gebildet hatten, Pleiten wurden verhindert, und Zombie-Banken nebst ihren ZombieKund­en – Scheintote, die eigentlich schon längst nicht mehr wettbewerb­sfähig waren – wurden am Leben gehalten. Ein schleichen­des Siechtum, statt einer schöpferis­chen Zerstörung war das Ergebnis der japanische­n Politik.

Europa ist heute im Begriff, den japanische­n Weg zu imitieren, denn seine Zentralban­k betreibt eine ähnlich expansive Politik, wie die Japaner sie wählten. Die kurzfristi­gen Zinsen sind nahe bei null, die Zentralban­k kauft in gewaltigem Umfang Staatspapi­ere von den Banken, um die Kurse hochzuhalt­en, und zugleich werden unter Missachtun­g sämtlicher Schuldenpa­kte neue Staatsschu­lden aufgehäuft. Den Zombie-Banken samt ihren maroden Kunden werden die Milliarden in den Rachen geworfen, um die Bilanzen zu retten, zumindest bis zum Zeitpunkt der Vergemeins­chaftung der Einlagen der Banken. Die Portfolio-Manager aus aller Welt applaudier­en der EZB, weil sie ihre gewagten Portfolios und mit ihnen die eigenen Einkommen gerettet hat. Nur die normalen Bürger, die Steuerzahl­er und die auf Zinsen hoffenden Sparer, haben bei allem ein mulmiges Gefühl. Ob ihre Kinder in einer dahinsiech­enden Welt groß werden müssen? Ob sie es sein werden, die die Zeche für den Verzicht auf eine Wertkorrek­tur der Kapitalgüt­er und den Erhalt der Blasen werden tragen müssen, und ob sie sich jemals wieder dem Zugriff der Gläubiger aus aller Welt entziehen können, denen sie sich als Bürgen präsentier­en mussten? Das wird die Geschichte zeigen.

„Dass das Sein das Bewusstsei­n bestimmt, ist eine tiefe Wahrheit.“

Hans-Werner Sinn über die Kernidee von Karl Marx

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FOTO: ADN Der deutsche Philosoph und Ökonom Karl Marx – hier auf einer Zeichnung von Wladimir Dworan nach einem Foto von John Mayall aus dem Jahr 1875: Wer die ökonomisch­en Krisen der vergangene­n Jahrhunder­te verstehen will, kommt an Karl Marx nicht vorbei,...

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